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»Miiä ziiängdi midn meeng«

Ein unbekannter bekannter Autor: Christian Enzensberger entdeckt die Erotik des Kommunismus in der Natur

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 7 Min.

Von diesem Schriftsteller behaupten manche, sie würden ihn nicht kennen, und doch haben sie ihn fast alle gelesen. Denn im Westen wuchs einer doch mit Christian Enzensbergers Übersetzung von Lewis Carrolls Romanen und Dichtungen auf. Im Osten las man die ebenfalls ingeniöse Übersetzung von Lieselotte und Martin Remané. Und das war mal ein heiterer Systemwettbewerb!

Die erste Strophe von Carrolls »Jabberwocky« klingt bei den Remanés so: »Es sunnte Gold, und Molch und Lurch / krawallten ’rum im grünen Kreis, / den Flattrings ging es durch und durch, / sie quiepsten wie die Quickedeis.« Enzensberger gibt das deutlich atonaler: »Verdaustig war’s und glasse Wieben / Rotterten gorkicht im Gemank; / Gar elump war der Pluckerwank, / Und die gabben Schweisel frieben.«

Nun entscheide dich, Leser! Oder lies beide Versionen. Dieser Wettbewerb hat außerdem für sich, dass der Bewerber aus dem Westen, Christian Enzensberger (1931-2009), kein finsterer Reaktionär oder elitärer Ästhetizist, sondern ein genuiner Kommunist war, kein Parteikommunist zwar, aber doch ein utopischer im vollen Umfang des Begriffs.

Das belegen seine grandiose Rehabilitierung des Stofflichen, der »Größere Versuch über den Schmutz« (1968), seine materialistische Poetik »Literatur und Interesse« (1977) und der monumentale Roman »Was ist Was« (1987), der die Geschichte des zitternden kleinen Ich mit dem des großen Wir der Menschheitsgeschichte parallel führt. Am besten belegt es aber sein Nachdenken über Natur und Welt, wie es Enzensberger in seinen letzten 20 Jahren betrieben hat. Daraus entstand das Romanfragment »Nicht Eins und Doch« (posthum 2013), in dem Steine erklären, was die Welt ist und was sie im Innersten zusammenhält. Und zwar tun sie das in ihrer Mundart, einer Mischung aus Bayerisch und Fränkisch.

Dieser letzte Roman hat die Literaturkritik maßlos überfordert. Im »Literaturclub« des Schweizer Fernsehens (25. Juni 2013) erklärte Elke Heidenreich: »500 Seiten Reden mit (Steinen) und über Steine überfordert mich in der Tat enorm. Ich bin nicht zu blöd, sowas zu lesen, sondern zu unlustig, ich habe keine Lust dazu ... Ich will das nicht haben, ich will mich soweit aus dem Zusammenhang mit allem Menschlichen nicht ausklinken.« Sprach’s, griff in ihre Tasche, holte Kiesel hervor, die sie gerade an einem Strand gefunden hatte, und legte sie auf das Buch, als ob es ein Grabstein wäre.

Wer weiß, ob wir Bücher, in denen Heidenreich am Strand schmökert, lustig fänden. Aber was für ein Höhepunkt der komischen Literatur, wenn bei Enzensberger die Bruderschaft der Steine den einsamen Spaziergänger mit »Föiddä woos?« anspricht! »Uns föid nemmli niggsn«. Denn damit ist nicht nur die seit der Antike vertraute Vorstellung, die Steine seien das Tote, widerrufen. Urkomisch ist auch die an Frechheit grenzende Selbstzufriedenheit der Steine, die weder Augen im Kopf noch überhaupt einen Kopf, geschweige denn einen Magen und zwei Beine haben, den Spaziergänger, der dies alles sein Eigen nennt, zu fragen: »Fehlt dir was? Uns fehlt nämlich nichts.« Sie haben ihn bis ins Mark durchschaut.

Tatsächlich fehlt dem Spazier- und Naturgänger eine ganze Menge, sowohl Erkenntnis über Grundlegendes - was bedeutet »Ich, Seele, Geist, Bewusstsein, Wirklichkeit«? -, als auch schlicht ein Leib: »Vom Leib weiß ich, dass andere einen haben (wenn auch nur wenige), meiner zeigt sich mir eher selten, und dann in zweifelhafter, durchsichtiger und nicht sonderlich geglückter Gestalt.« Ja, fragt jetzt die lustige Strandleserin, haben denn die Steine einen Leib? - Allerdings haben sie einen, das merkt der Spaziergänger, als er die runden Kiesel in seiner Hand wiegt, das merkt der Leser, wenn er ihre deftigen Sprüche liest, in denen Wampe und Weisheit sich die Waage halten. Es sind Sprüche im Dialekt, fast immer in der ersten Person Plural.

Das Geheimnis der Steine besteht nämlich in ihrem Zusammenhalt, in ihrem tätigen Zusammensein, ihrem Wir, sie sind eine Gemeinschaft, ein Idealvolk von Arbeitern. Man muss sie sich als einen wimmelnden Haufen vorstellen, einerseits von dickbäuchiger Gelassenheit, andererseits von sinnierender Weitsicht. Sie schauen nach oben, und am Himmel droben hängen ihre Brüder, die nicht nur lautlich sehr ähnlichen Sterne.

Aus dem Gegensatz Stein und Stern entwickelt Enzensberger eine ganze Naturphilosophie, in der das Obere (Bilder, Vorstellungen, Pläne, aber auch Geld) mit dem Unteren (Leib, Wirklichkeit, Geschichte) in einer dialektischen Beziehung steht. Wer den ganzen Reichtum dieses Denkens auskosten will, lese, wie der Bayer sagt, »ned mid Gwoid«, vielmehr »doucement«, wie der Saarländer sagt, also langsam.

Am Ende, wenn der Text mitten in der schönsten, gespanntesten Reflexion abreißt, ist der »günstige Leser« traurig. Er spürt, dass das noch hätte weitergehen sollen, weitergehen müssen. Und das stimmt auch: »Die Steine, die Gewächse, der Leib« war das Mammutprojekt einmal überschrieben, der Tod des Autors brach es nach einem Drittel ab. Immerhin sind viele tausend Seiten Notizen im Nachlass erhalten. Ich hatte Gelegenheit, gut 600 Blatt davon zu studieren, und kam aus dem Staunen nicht heraus.

So gründlich, so systematisch ist wohl noch niemals ein Roman vorbereitet worden. Fein säuberlich stehen Sätze untereinander, die jeweils mit vierstelligen Kennziffern gedanklichen Komplexen (z.B. »Wir-Sein als Tätigkeit«, »Licht-Mögen«) zugeordnet sind. Das Ganze liest sich wie ein Hegel von der Pegnitz: »Am schennè Guada es Schenne ned gandz es Wahre / am guade Schenne es Guade ned gandz es Wahre.« Anders als im Roman gibt es auf den Notizzetteln keine Übersetzung, deshalb noch einmal auf Norddeutsch: »Am schönen Guten (ist) das Schöne nicht ganz das Wahre, am guten Schönen (ist) das Gute nicht ganz das Wahre.«

Enzensberger reflektiert hier also unter anderem das Verhältnis von Ästhetik und Ethik. Dass die Ethik sich von einer tätigen Gemeinschaft her definiert, wird die Lehre der Steine sein. In einem frühen Stadium der Beschäftigung mit dem Thema ist es die Lehre des Laubs, das nicht nur ein sterbendes, sondern auch ein schönes Kollektiv, genauer und mit Ernst Bloch gesagt, der »Vor-Schein« eines neuen Kollektivs ist.

Unmittelbar leuchtet in dieser Philosophie ein erotischer Kommunismus ein. Was einen Menschen ins Leben und in die Gegenwart, ins Wirkliche ruft, was ihn bereichert und erfüllt, sind immer die andern. Ein »Sein machen« können sie kraft ihres »Mögens«, und mögen kann nur ein Tätiger, ein Arbeitender. »Miiä ziiängdi midn meeng, midn miiä sai; miiä hom es miiä sai äfundn« (Wir ziehen dich mit dem Mögen, dem Wirsein; wir haben das Wirsein erfunden), sagen die Steine. Mehr noch als die beiden späten Romane bezeugen die Notizen aus dem Nachlass, dass der Schriftsteller für seine Naturwesen an ganz konkreten Modellen Maß nahm, es waren seine proletarischen Freunde und Liebhaber, deren Aussprüche er zitiert, abwandelt, abstrahiert. In verwandelter Form geisterten sie schon immer durch seine Schriften. Bereits in »Was ist Was« heißt es über seine Liebe zu Giacomo: »Wir sind ja nicht allein, es gibt nicht nur uns zwei.« Er hört ein Murmeln, Schreien, Lachen. Dann sind die beiden von einer Menge umringt, die ruft: »Da seid ihr, endlich seid ihr ja da!«

Diese Freude vermitteln auch »Nicht Eins und Doch« und seine murmelnden und kichernden Steine, auf die der bürgerliche Intellektuelle statt der Arbeiter trifft. Im Spätwerk Enzensbergers hat sich diese dramatische, im Grunde tragische Wende vollzogen: Als die Gesellschaft zu Stein erstarrte, mussten die Steine lebendig werden. Wir haben es also bei diesem Roman mit einer Utopie, einem Anderswo, zu tun. Zwar stehen die Steine und die Naturwesen für ein unentfremdetes, wenn auch nicht konfliktfreies Zusammenleben, aber es ist eben ein Zusammenleben, das es nicht mehr gibt und nur noch als Möglichkeit aufscheint.

Als Philologe - er war im Brotberuf Professor für Anglistik - stand Enzensberger der Utopie kritisch gegenüber. Einerseits hat er, anders als die Snobs, die »kompensatorische« Leistung der Literatur anerkannt. Dass uns Literatur in einem sinnlosen Leben Sinn geben kann, hielt er nicht für verkehrt, egal, ob daraus nun ein Heftchenroman oder ein Kunstmärchen wird. Andererseits sei die literarische Utopie deshalb nie gelungen, weil »das Tor zur sinnvollen Gesellschaft sich nicht dadurch öffnen lässt, dass man von ihr träumt«.

In »Nicht Eins und Doch«, diesem heiteren und weisen Roman des alten Christian Enzensberger, tut sich das Tor zur sinnvollen Gesellschaft aber nicht nur für den träumenden Spaziergänger auf. Die Literatur ist anders als das Leben, damit wir uns ein anderes Leben vorstellen können.

Ausführlich schreibt Stefan Ripplinger über den Nachlass des Schriftstellers in dem soeben erschienenen Erinnerungsbuch »Christian Enzensberger. Ins Freie«, herausgegeben von Wolfgang Gretscher und Christiane Wyrwa, Scaneg, 190 S., 28 €.

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