»Wir müssen konsequent aufräumen«

Im Gespräch: Der Thüringer Verfassungsschutz-Chef Stephan J. Kramer über Demokratie, das Problem der Geheimdienste und die Gefahr von Rechts

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 16 Min.

Herr Kramer, wann haben Sie eigentlich das letzte Mal ins Grundgesetz geschaut?

Stephan J. Kramer: Vor etwa zwei Monaten. Ich habe einen Vortrag vorbereitet, der sich um die Frage dreht, ob es einen unauflösbaren Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit gibt.

Und, wie fällt Ihre Antwort aus?

Es gibt keinen Widerspruch, im Gegenteil: Freiheit und Sicherheit sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das eine ist ohne das andere nicht zu denken.

Der Leiter einer Landesbehörde, die faktisch ein politischer Inlandsgeheimdienst ist, muss wohl so sprechen. Geheimhaltung, Intransparenz, Überwachung, Datensammelei: Das alles trägt nicht gerade zur Freiheit bei, oder?

Der Verfassungsschutz ist kein Geheimdienst, sondern ein Nachrichtendienst. Und das ist nicht nur Wortklauberei. In einer Demokratie kommt ihm die Aufgabe zu, Bestrebungen gegen die demokratische Verfasstheit einer offenen Gesellschaft zu beobachten. Er dient der wehrhaften Demokratie. Es gibt eine objektive Interessenidentität zwischen Gesellschaft und Verfassungsschutz, die aber in beiden Bereichen nicht immer erkannt wird, wie es Prof. Pfahl-Traughber einmal treffend formuliert hat.

Was ist denn nun Bitte der Unterschied zwischen Nachrichtendienst und Geheimdienst?

Ein Geheimdienst als klassisches Instrument eines diktatorischen Regimes hat die Aufgabe, die Gesellschaft hinsichtlich einer möglichen Gefahr für die Herrschenden zu überwachen. Der Verfassungsschutz unterliegt vielfältigen Kontrollmöglichkeiten. Die Dienst- und Fachaufsicht des Innenministeriums, die Parlamentarische Kontrollkommission des Thüringer Landtages, die G10-Kommission, der Datenschutzbeauftragte und der Rechnungshof, aber auch Bürgeranfragen und Klagemöglichkeiten. Nach einem Geheimdienst mit willkürlichen Überwachungsmethoden sieht das für mich nicht aus.

Wir stehen immer noch fassungslos vor einem der größten Skandale der Sicherheitsbehörden in der Bundesrepublik: die Verstrickung in den NSU-Skandal. Immer wieder kommen erschreckende Dinge heraus, die vorher nicht bekannt waren.

Ich will die aktuelle Situation überhaupt nicht schönreden. Nach dieser Katastrophe, ein rechtsterroristisches Netzwerk nicht ausschalten zu können, hat die Politik hier in Thüringen drastische Konsequenzen gezogen und die Kontrollmechanismen und Befugnisse des Verfassungsschutzes restriktiv festgelegt. Aus Sicht eines Verfassungsschützers sind die Schellen so eng angelegt, dass ich manchmal etwas stöhne. Aber klar ist auch: Nach dem NSU-Skandal ist Kosmetik keine Alternative. Wir müssen konsequent aufräumen und einen substanziellen Neuanfang hinbekommen. Nur so können wir versuchen das Vertrauen zurückgewinnen.

Sie sprechen von engen Schellen. Was meinen Sie?

Wir haben zum Beispiel sehr viele umfangreichere neue Berichtspflichten. Wir müssen detailliert über unsere Tätigkeiten den Kontrollgremien Auskunft geben – und zwar monatlich. Das bindet Personal, das wir an anderer Stelle gut gebrauchen könnten. Denn wir haben auch eine wachsende Gefährdungslage. Wenn unsere Leute permanent an der Belastungsgrenze und darüber hinaus arbeiten müssen, geht das zu Lasten der eigentlichen nachrichtendienstlichen Arbeit und der Analysefähigkeit.

Ist das für Sie Verfassungsschutz: Überwachung?

Wir überwachen aus einem konkreten Anlass. Es geht um Demokratieschutz vor der Schwelle der strafrechtlichen Relevanz. Wir wollen Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung frühzeitig erkennen und damit letztendlich verhindern, in dem auf der Basis unserer Analysen und Bewertungen Politik, Polizei und Justiz rechtzeitig einschreiten können. Die wehrhafte Demokratie funktioniert nur, wenn der liberale Rechtsstaat über das Potential seiner Gefährdung durch Extremisten informiert ist und über entsprechende Abwehrmechanismen verfügt.

Wenn das Verfassungsschutz ist, also die Bewertung von Stimmungen, von Entwicklungen, dann könnte das doch auch eine andere Stelle machen, eine, die nicht im Geheimen arbeitet. Eine Stelle für Demokratieforschung etwa.

Analysieren und Bewerten können selbstverständlich auch andere Institutionen, wie etwa sozialwissenschaftliche oder politikwissenschaftliche Institute. Entscheidend sind die Informationen und Erkenntnisse über die sie verfügen. Entscheidend ist die Frage, wie gelangt man an Informationen über extremistische Bestrebungen? Hier bestehen offene und verdeckte Wege. Offene Wege stehen jedem Bürger und Wissenschaftler zur Verfügung. Hierzu gehört die offene Internetrecherche, ebenso wie der Besuch von öffentlichen Veranstaltungen oder die Lektüre von Publikationen der entsprechenden Gruppen. Man erhält dabei aber nur das Bild, das eine Aktivistengruppe, Organisation oder Partei selbst von sich vermitteln will. Interessanter und für die Gesamtbewertung ebenso wichtig sind aber auch Informationen, die nicht offen zugänglich sind. Hier können nachrichtendienstlich erlangte Erkenntnisse ein anderes und treffenderes Bild der politischen Strategien und Zielsetzungen und damit des Gefährdungspotentials liefern. Die unabhängige Wissenschaft stößt schnell an Grenzen bei der Beschaffung von wichtigen Informationen. Natürlich haben Sie recht, dass vor allem im Bereich Rechtsextremismus auch viele wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Beurteilungen ergehen, die treffende Situationsbeschreibungen und Einschätzungen liefern.

Sie meinen den NSU-Skandal.

Zur Wahrheit gehört auch, dass weder die Zivilgesellschaft und die sozialwissenschaftlichen Institute noch die Medien, die Tragweite des NSU seinerzeit zutreffend analysiert und erkannt haben. Niemand hat dieses Ausmaß gesehen. Ich gehörte zu denjenigen, die von Anfang an die Arbeit des Verfassungsschutzes deutlich kritisiert haben. Und ja, auch ich habe mir die Frage gestellt, ob es nicht besser wäre, das Instrument Verfassungsschutz in der damaligen Konstruktion aufzulösen. Aber dann muss man sich die Frage beantworten können, wer seine wichtigen Aufgaben übernimmt und besser machen kann.

Für Straftaten sind Polizei und Justiz zuständig.

Es geht aber gerade um das Vorfeld des Demokratieschutzes vor der strafrechtlichen Relevanz. Entscheidend ist die Frage und dies wird zu Recht kontrovers diskutiert, ob der Staat und im Besonderen die Verfassungsschutzbehörden gewaltfrei und legal agierende politische Organisationen beobachten dürfen. In diesem Zusammenhang erlangt auch die Frage der Definition des Extremismusbegriffs, die in der Wissenschaft seit Jahren diskutiert wird, und die Auswirkungen auf die Arbeit der Verfassungsschutzämter besondere Bedeutung. Wir fragen uns schon selbstkritisch, ob uns die aktuelle Extremismusdefinition für den Verfassungsschutz die echten Bedrohungen zuverlässig erkennen lässt. Fest steht aber auch, dass die meisten Gewalttäter sich zuvor in nicht-gewalttätigen Personenzusammenschlüssen ideologisch radikalisiert haben. Am Ende geht es aber immer auch um eine effektive Zusammenarbeit auf der Basis der gesetzlichen Vorschriften und der Beachtung des Trennungsgebotes zwischen Verfassungsschutz, Polizei und Justiz.

Wollen Sie das Trennungsgebot aufheben?

Nein, aber ich glaube, dass wir uns eine Grundsatzdebatte über die Sicherheitsarchitektur in der Bundesrepublik Deutschland leisten sollten. Beispielsweise wie und ob bestimmte Konstruktionen und Regelungen angesichts der heutigen Gefährdungssituationen, der föderalistischen Strukturen noch angemessen und sinnvoll sind.

Die Forderung nach Auflösung der Landesämter für Verfassungsschutz haben Sie früher selbst erhoben.

Ich habe vor meiner Zeit hier im Amt in einer Arbeitsgruppe der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema »Ideologien der Ungleichwertigkeit« mitgewirkt und in einem Aufsatz die Frage aufgeworfen, ob die Konstruktion Verfassungsschutz, die einmal unter ganz anderen historischen Bedingungen entstanden ist, heute noch sinnvoll ist. Diese Frage ist immer noch richtig. Aber angesichts der Bedrohungslage vor allem von Rechtsextremisten können wir uns eine umfangreiche Werftpause nicht erlauben. Das darf natürlich keine Ausrede dafür sein, konstruktive Selbstkritik und notwendige Reformen zu unterlassen.

Auflösung wäre eine sehr weitgehende Form von Selbstkritik.

Wir sollten uns keine voreiligen Denkverbote auferlegen. Aber was würde sich nach einer Auflösung ändern? Jemand anderes würde die Aufgabe übernehmen müssen. Am Ende lägen doch wieder nachrichtendienstliche Mittel in den Händen einer staatlichen Behörde. Die Frage des verantwortungsvollen Einsatzes dieser Mittel im Rahmen der gültigen Gesetze und parlamentarischen Kontrolle stellt sich dann in gleicher Weise. Es geht im Kern um das Spannungsverhältnis von Gesellschaft und Verfassungsschutz in einer Demokratie.

Vielleicht ist das ja das eigentliche Problem: Das Wesen des Geheimdienstlichen ist mit Demokratie nicht kompatibel.

Noch einmal: Der Verfassungsschutz ist kein Geheimdienst sondern ein Nachrichtendienst. Auf den Unterschied habe ich hingewiesen. Es existiert eine unauflösbare Dilemma-Situation, wie sie der Staatsrechtler Karl Loewenstein beschrieben hat: »Eine Demokratie muss um ihrer Identität willen einerseits ihren Feinden politische Grundrechte zugestehen und um ihres Schutzes willen andererseits ihnen die Möglichkeit zur Systemüberwindung verwehren«. Der Verfassungsschutz muss sich als Dienstleister der Demokratie verstehen. Dazu gehört auch eine Öffnung in Richtung Gesellschaft mit dem Ziel so weinig Geheimhaltung wie nötig und so viel Transparenz wie möglich. Es muss uns gelingen, dass die nachrichtendienstliche Beobachtung und Bewertung extremistischer Bestrebungen auch im Meinungsbild der Gesellschaft ihre Legitimität und Wertschätzung erfährt.

Ist das nicht schon ein Widerspruch: Einerseits soll der Verfassungsschutz herauszufinden, ob bestimmte Gruppen »extremistisch« sind – er weiß es also noch nicht, muss aber zur Erstellung seiner Analysen Mittel anwenden, die bereits in die Grundrechte von Menschen eingreifen?

Ich sehe da keinen Widerspruch, allenfalls ein Spannungsverhältnis. Wir setzen uns doch nicht einfach hin und entscheiden nach Laune, ob wir jetzt gegen irgendeine Gruppe nachrichtendienstliche Mittel einsetzen. Es muss vorher konkrete Anhaltspunkte geben, dass von dieser Gruppe eine Gefährdung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausgehen könnte. Am Anfang schauen wir auf öffentliche Quellen, Zeitungen, Publikationen und so weiter, um uns eine Meinung zu bilden. Daraus beziehen wir etwa 80 Prozent der Informationen für unsere Lagebilder. Und bevor wir den nächsten Schritt tun, greifen die parlamentarischen Kontroll- und Genehmigungsmechanismen. Wir müssen dann schon sehr gut erklären können, warum wir jemanden mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwachen wollen. Wir sind dabei in der Beweispflicht, die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung für den jeweiligen Betroffenen aufzeigen zu können.

Gehört die AfD für Sie dazu? In Thüringen fühlt sich der rechtsradikale Flügel dieser Partei zuhause.

Derzeit ist die AfD noch kein Beobachtungsobjekt. Aber wir schauen sehr genau auf die offenen Informationen, Medienberichte und Stellungnahmen aus der Partei. Dazu gehört zum Beispiel das Parteiprogramm mit seinen Aussagen und die aktuellen Äußerungen von Vertretern der Partei. Auch die Frage ob bekannte rechtsextreme Personen in der Partei aktiv sind wird von uns geprüft. Derzeit sind die Voraussetzungen für eine Beobachtung nicht erfüllt.

Das wäre wann?

Wenn für uns extremistische Züge erkennbar sind, d.h. wenn die Partei mit ihren Handlungen und erkennbaren Zielen eines oder mehrere der Merkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablehnt bzw. bekämpft.

Tut Sie das nicht, etwa mit dem Ruf nach Einschränkung der Religionsfreiheit für Muslime, mit Äußerungen gegen Geflüchtete und Migranten, die mindestens die Würde des Menschen verletzten?

Die Äußerungen zum Islam, gegen Flüchtlinge und politisch Andersdenkende sind für uns erste ernstzunehmende Anhaltspunkte. Wir prüfen derzeit, ob sich daraus eine veränderte Bewertung ergibt.

Die Linkspartei war aus viel geringeren Gründen ein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Kein Wunder, dass Ihnen vorgehalten wird, auf dem rechten Auge blind zu sein.

Obgleich die Partei u. a. in Thüringen nicht der Beobachtung unterfiel, kann ich diese Kritik sogar ein bisschen nachvollziehen. Auch deshalb, weil so eine Überwachung ein besonders scharfes Schwert aus dem Waffenarsenal der Demokratie ist. Aber der Vorwurf blind zu sein trifft nicht, sofern wir uns an die bestehenden gesetzlichen Eingriffsregeln halten. Ich weiß natürlich, dass über Jahrzehnte, besonders in der Nachkriegszeit, quasi jeder, der nur eine rote Fahne in seiner Nähe hatte, schon als Staatsfeind bezeichnet wurde. Ich hoffe, dass wir darüber hinweg sind.

Zur Linkspartei konnte man in Verfassungsschutzberichten lesen, dass es Diskussionen über eine andere Wirtschaftsordnung gibt, dass Gruppen Solidarität mit Kuba hochhalten und dass sich irgendwer mal jemand auf Karl Marx berufen hat. Das Grundgesetz schützt doch den Kapitalismus nicht.

Da gebe ich Ihnen völlig recht. Unser Schutzgut und Maßstab sind die Minimalbedingungen unseres demokratischen Verfassungsstaates d.h. die Merkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Wir arbeiten derzeit an unserem aktuellen Verfassungsschutzbericht für Thüringen. Da wird es auch ein Kapital zum Phänomenbereich »Linksextremismus« geben. Ob dieser Begriff noch zutreffend ist, wird insbesondere in der Wissenschaft, aber auch bei uns diskutiert. Dass es auch Linksextremisten gibt, die ihr Gesellschaftsbild mit Gewalt umsetzen wollen, kann nicht bestritten werden. Ich glaube jedoch, wir haben im Moment an ganz anderen Stellen Probleme, und das ist in erster Linie der Rechtsextremismus.

Ist dieser Extremismus-Ansatz überhaupt richtig? Am Rand die Bösen, in der Mitte die Guten?

Wir können theoretisch, wissenschaftlich, philosophisch darüber gern debattieren. Das wird ja auch gemacht, schon seit Jahrzehnten. Für den Verfassungsschutz geht es aber um eine viel einfachere Frage: Eine offene Gesellschaft und ein demokratischer Verfassungsstaat müssen um ihres konstitutiven Selbstverständnisses willen einer Vielzahl von politischen Meinungen und Organisationen ungehinderten Freiraum geben, um zu streiten und zu debattieren. Das ist das Wesen der offenen Gesellschaft und der Demokratie. Um dies aber allen Akteuren in gleicher und sicherer Weise gewähren zu können, bedarf es der allseitigen Einhaltung von bestimmten Minimalbedingungen, wie sie in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vom Bundesverfassungsgericht benannt wurden. Wer sich gegen eine oder mehrere dieser Merkmale der freiheitlich demokratischen Grundordnung wendet, dessen politische Bestrebungen gelten für uns als »extremistisch« und sind vom Verfassungsschutz zu beobachten. Aus welcher politischen Richtung diese Haltung kommt ist für uns unerheblich.

Der linksliberale Verfassungsrechtler Helmut Ridder hat einmal über den Verfassungsschutz gesagt, dieser mache seine eigene Ideologie zur monopolistischen Staatsideologie und verschaffe sich so ein Instrument vor allem gegen jene, die nicht die Demokratie abschaffen wollen, sondern eine sozial gerechtere, eine auch in die Ökonomie sich erstreckende echte Demokratie wollten.

Ich teile diese Einschätzung nicht, würde mir aber wünschen, dass wir viel mehr über solche Fragen reden und dass dies eine Diskussion wird, die nicht nur ein paar Leute im Elfenbeinturm interessiert. Es würde die Demokratie sogar stärken, wenn wir einmal offen darüber debattieren, ob wir mit diesen Extremismusbegriffen überhaupt noch die aktuellen Problemlagen und Bedrohungen erfassen. Für die praktische Arbeit des Verfassungsschutzes hat diese Diskussion aber kaum Auswirkungen.

Warum nicht?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Von Rechts wird gezielt mit Übertretungen provoziert – einen Schritt rüber über die Grenze des politisch Erlaubten, dann wieder ein Schritt zurück. Denken Sie an die AfD-Schießbefehl-Debatte, an Äußerungen über Migranten. Im Ergebnis hat das zu einer wachsenden Enthemmung und Gewaltbereitschaft in der Mitte der Gesellschaft geführt – aber keineswegs nur in einem Milieu, das wir bereits als rechtsextremistisch auf dem Radar hatten. Zwei Drittel der festgestellten Täter bei rechten Gewalttaten sind zuvor weder dem Staatsschutz noch dem Verfassungsschutz bekannt gewesen. Wir haben es mit völlig neuen Leuten zu tun, teils aus der Mitte der Gesellschaft. Hier stößt dann auch die alte Extremismus-Logik an Grenzen.

Ich habe noch ein anderes Problem mit diesem Ansatz: Er stellt Menschen, die sich für den Schutz der Demokratie engagieren auf eine Stufe mit denen, die sie tatsächlich angreifen. Wie oft muss man von »Linksextremen« lesen, die Nazis an Aufmärschen hindern wollen, auf denen die Abschaffung der Demokratie propagiert wird. Das kann man doch nicht in einen Topf werfen.

Ich gebe Ihnen recht, dass dies eine sehr unbefriedigende Situation ist. Verfassungsschutzbehörden verwenden den Begriff »Extremist« generell mit Bedacht. Für Thüringen kann ich das sagen, dass diese Klassifizierung von Gegendemonstranten rechtsextremistischer Kundgebungen dann erfolgt, wenn es auch tatsächlich Erkenntnisse dahingehend, insbesondere bei gewalttätigen Gegendemonstrationen, gibt. Ich will nicht ausschließen, dass uns dabei auch Fehler unterlaufen können, aber wir bemühen uns um eine saubere handwerkliche Arbeit bei diesen Bewertungen. Gleichzeitig muss ich darauf hinweisen, dass Gewalt kein legitimes Mittel ist, Ablehnung und Abscheu gegenüber Rechtsextremisten auszudrücken. Das Blockieren und Verhindern von Aufmärschen und Demonstrationen ist eine Gradwanderung. Ich selbst kann mich noch an rechtsextremistische Aufmärsche in Dresden erinnern, anlässlich des Gedenkens an die Bombenangriffe auf die Stadt, wo ich als Generalsekretär des Zentralrats der Juden zusammen mit Wolfgang Thierse an Gegenprotesten teilgenommen habe. Ich weiß also wovon sie sprechen.

Als Verfassungsschutzchef haben Sie jetzt eine andere Rolle.

So wie ich das Amt verstehe, geht es mir darum, Vertrauen zurückzugewinnen und die Behörde mit meinen Kolleginnen und Kollegen zusammen wieder in die Lage zu versetzen, wirksam insbesondere gegen die rechtsextremen Feinde unserer Demokratie in Thüringen vorzugehen. Die entschlossene Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus ist allerdings eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Sie sind seit einem halben Jahr im Amt. Haben Sie den Schritt nach Erfurt schon bereut?

Überhaupt nicht. Ich bin ja nicht hierher gegangen, weil ich meine Rentenansprüche sichern wollte. Und dass das Amt nach der NSU-Katastrophe kein Platz an der Sonne sein würde, wusste ich vorher.

Sind Sie mit der Reform des Verfassungsschutzes schon vorangekommen?

Die Grundlagen für die Reform sind von der Politik in Thüringen gelegt worden. Wir haben ein neues Verfassungsschutzgesetz und klare politische Rahmenbedingungen mit denen wir seit einiger Zeit arbeiten. Wir haben im Amt wichtige Schritte unternommen, aber es ist noch ein langer Weg. Manche Maßnahmen müssen evaluiert und ggf. nachjustiert werden. Und wir werden auch keineswegs das Ziel erreichen, wenn in anderen Bundesländern nicht auch etwas passiert.

Als Sie eingestiegen sind, hat man Ihnen Unerfahrenheit vorgeworfen. Ist das ein Problem, wenn man einen Apparat umkrempeln will?

Für mich war es kein Problem, denn ich bin es gewohnt mich auf neue Herausforderungen rasch einzustellen. Ob es für andere eines ist, dürfen Sie mich nicht fragen. Abgesehen davon wird man nicht als Verfassungsschützer geboren. Das ist ja keine bei der Handelskammer zertifizierte Ausbildung. Insofern sammelt man die Erfahrung in der Tätigkeit. Hilfreich ist, dass ich hier in Erfurt in meinem Haus aber auch in der Landesregierung und im Verbund der Verfassungsschutzämter sehr viel Unterstützung erfahren habe und erfahre. Schließlich kam der Vorwurf der Unerfahrenheit von denselben Leuten, die vorher ganz zu Recht kritisiert haben, dass es zu wenig Quereinsteiger gibt und in den Verfassungsschutzämtern ein ungesundes Eigenleben herrscht. C'est la vie!

Sie haben nicht die Sorge, dass der Apparat ihre Bemühungen um Reformen aussitzt?

Natürlich hatte auch ich diese Befürchtung. Und wenn es gar keine Widerstände geben würde, dann würde auch mein Bild vom Behördenleben enttäuscht. Aber im Ernst: Es geht hier nicht um eine One-Man-PR-Show, sondern darum, bestehende Defizite Schritt für Schritt zu beseitigen und den Verfassungsschutz fit für die Zukunft und seine Aufgaben zu machen. Das schaffen wir nur gemeinsam.

Ist man bei Rot-Rot-Grün noch froh über Ihre Bestallung? Sie haben sich mit Vorstößen für eine Ausweitung der Befugnisse des Amtes schon mehrfach Ärger von Seiten der rot-rot-grünen Koalition eingehandelt.

Korrektur: Ich habe keine Ausweitung der Befugnisse des Amtes gefordert sondern nur auf Defizite bei der Wahrnehmung der bestehenden hingewiesen. Ich bin aber der falsche Adressat für Ihre Frage. Das müssen andere beurteilen. Alle Beteiligten wussten vorher, dass ich ein Mann der deutlichen Aussprache bin und Probleme klar benennen werde. Ich bin weder Opportunist noch suche ich Streit um des Streites willen und ich kenne auch meine Rolle als Behördenleiter. Klar: Da muss dann auch ich einmal Kritik einstecken. Aber nur mit offenem Visier können wir Vertrauen in diese Behörde wieder aufbauen. Das versteht auch die Politik.

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