Das Demokratiefenster steht offen

Raul Zelik über Podemos und die Perspektiven eines Politikwechsels in Spanien

Lange undenkbar, ist es nun ein realistisches Szenario: Pablo Iglesias, Parteichef der erst 2014 gegründeten Partei Podemos (Wir können), könnte neuer Premierminister Spaniens werden. Am 26. Juni muss in Spanien ein neues Parlament gewählt werden, nachdem sich die Parteien nach den Wahlen vom Dezember nicht auf ein tragfähiges Regierungsbündnis haben einigen können. Seitdem haben sich im linken Lager die Gewichte deutlich verschoben: Podemos tritt in einem Wahlbündnis mit der Vereinten Linken (IU) unter dem Namen Unidos Podemos (Vereint können wir es schaffen) an und liegt in allen Umfragen klar vor der sozialdemokratischen PSOE, sodass Iglesias anstelle von PSOE-Chef Pedro Sánchez nach den Wahlen vom König Felipe mit der Regierungsbildung beauftragt werden könnte, sofern der amtierende rechte Premier Mariano Rajoy wie zu erwarten ist, wieder scheitert.

Den Hintergrundsound zu dieser Zukunftsmusik liefert das Buch von Raul Zelik: »Mit PODEMOS zur demokratischen Revolution?« Darin wird der demokratische Aufbruch in Spanien seit der Bewegung der Platzbesetzungen 2011 rund um die Indignados (Empörten) geschildert, die mit Bezug auf den Beginn der Besetzungen am 15. Mai 2011 auch als Bewegung 15M firmieren. Ohne die Basis 15M wäre Podemos nicht entstanden. Doch auch 15M entstand nicht aus dem Nichts, sondern ist ein Produkt der tiefen gesellschaftlichen Krise, in der Spanien seit geraumer Zeit steckt und die durch das Platzen der Immobilienblase 2008 nur katalytisch verstärkt wurde. »Der spanische Staat leidet unter einem Demokratiedefizit und unter den ungelösten Konflikten mit den anderen Nationen im Staat: den Katalan/innen, Bask/innen und Galicier/innen«, benennt Zelik das Kardinalproblem, das einer Lösung harrt. Wie sich dieses Demokratiedefizit äußert, zeigt das im Sommer 2015 von der rechten PP-Regierung verabschiedete »Knebelgesetz« (Ley mordaza): Damit wird ziviler Widerstand massiv unterdrückt, allein für den Aufruf zu einer unangemeldeten Kundgebung »kann man nun für ein Jahr, für einen link zu einer verbotenen Website für mehrere Jahre ins Gefängnis kommen«.

Da sich das aktuelle Spanien ohne einen Rekurs auf die Geschichte nicht verstehen lässt, steht ein historischer Parforceritt ausgehend vom 17. Jahrhundert am Anfang. Bis Ende des 19. Jahrhunderts bestimmten die »französischen« Bourbonen und die »österreichischen« Habsburger mit ihren Erbfolgekriegen maßgeblich Spaniens Entwicklung. Katalonien setzte zum Beispiel mit Karl VI. auf die falsche Karte und verlor nach dessen Niederlage am 11. September 1714 gegen die Truppen des Bourbonenkönigs Philipp V. seine Selbstverwaltung. Der Konflikt mit Zentralspanien währt bis heute.

Von der Diktatur Francos (1939-1975) über die Phase der Transición, des Übergangs der Demokratisierung nach Francos Tod bis 1982, hin zur neuesten Entwicklung von der Wirtschaftskrise bis zur Protestbewegung wird in prägnanter Form ein Überblick gegeben, der dann in die Schlusskapitel mündet, in denen Podemos vom Gründungsprozess bis zur politischen Strategie zur Regierungsübernahme eingehend beleuchtet wird. Worum es Podemos geht, wird an einer wiederkehrenden Redewendung deutlich: »cambiar el tablero«, sinngemäß übersetzt mit »die Spielregeln verändern«. »Podemos will sich nicht auf einem bestehenden politischen Feld verorten, sondern erzwingen, dass dieses Feld auf der Grundlage neuer Gegensätze (›oben-unten‹ statt ›rechts-links‹) strukturiert wird«, beschreibt Zelik das politische Projekt von Podemos und arbeitet die Bezugspunkte zum Linkspopulismus heraus, wie er vom argentinisch-britischen Theoretiker Ernesto Laclau (1935-2014) und der Belgierin Chantal Mouffe in ihrer »post-marxistischen« Sozialtheorie entworfen wurde. Zelik sieht Podemos bei aller grundsätzlichen Sympathie durchaus kritisch: »Um Regierungsfähigkeit zu zeigen, rückt die Parteiführung immer deutlicher von Positionen ab, die Podemos auf der Linken verorten würden.« Zelik liefert mit seinem Buch einen substanziellen Einblick in das aktuelle politische Geschehen Spaniens.

Den gelungenen Abschluss bilden Interviews mit bekannten Vertretern und Vertreterinnen der pluralen spanischen Linken, von Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau, einer ehemaligen Hausbesetzerin, über den Podemos-Mitgründer Luis Alegre und seinen Mitstreiter Miguel Urbán. In ihnen werden die Mühen der Ebenen in den Institutionen ebenso geschildert wie die Schwierigkeit, eine weitgehend entpolitisierte Gesellschaft zu repolitisieren.

Raul Zelik: Mit PODEMOS zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien, Bertz + Fischer, Berlin. 224 S., br., 9,90 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.