Gauck enttäuscht in Chile die Opfer

Bundespräsident lehnt Entschädigungen für die Betroffenen der deutschen Sektensiedlung »Colonia Dignidad« ab

Empfangen mit Generalstreik: Als Bundespräsident Joachim Gauck am Donnerstag zum Abschluss seiner Lateinamerikareise in Uruguays Hauptstadt Montevideo eintraf, stand nicht jedes Rädchen still, aber doch so manches. Gauck selbst aber war nicht Ziel des Unmuts, sondern die Mitte-links-Regierung von Tabaré Vázquez. Der Gewerkschaftsverband fordert von ihr, die Lohnleitlinien zu ändern, auf denen die Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Staat basieren. Diese setzen aus Arbeitnehmersicht eine Obergrenze bei Lohnerhöhungen, die niedriger als die Inflation ist.

Empfangen mit hohen Erwartungen: In Chile war nicht nur erhofft worden, dass das Thema der deutschen Sektensiedlung »Colonia Dignidad« einen zentralen Platz während des Bundespräsidentenbesuchs einnehmen würde, sondern mehr - Angehörige von während der Diktatur in der Siedlung verschwundenen Personen hatten Gauck um ein Gespräch im Rahmen seines Besuchs gebeten. Daraus wurde nichts und auch eine Stippvisite in der inzwischen unter »Villa Baviera« (Bayrisches Dorf) firmierenden Siedlung unterließ Gauck.

Die hohen Erwartungen an Gauck beruhten auf der selbstkritischen Rede von Bundesaußenminister FrankWalter Steinmeier Ende April in Berlin: »Im Spannungsfeld zwischen dem Interesse an guten Beziehungen zum Gastland und dem Interesse an der Wahrung von Menschenrechten ging Amt und Botschaft offenbar die Orientierung verloren«, so der SPD-Politiker am 26. April im Rückblick.

Menschenrechte wurden in der »Colonia Dignidad« (Siedlung der Würde) buchstäblich mit Füßen getreten: Es war ein Ort der Gewalt, zum Beispiel von Zwangsarbeit und sexuellem Missbrauch an Kindern über fast fünf Jahrzehnte: von der Gründung der Sektensiedlung durch Paul Schäfer in den 60er Jahren bis zu seiner Festnahme in Argentinien im Jahr 2005. Und auch: Stätte von Folter und Mord an politischen Gefangenen der Pinochet-Diktatur (1973-1990).

Angesichts dieser Vorgeschichte wollten die verschiedenen Opferkollektive vom Bundespräsidenten hören, was die Bundesregierung nun für die Opfer zu tun gedenkt. Gaucks Rede war ein Schlag in die Magengrube: »Was die deutsche Regierung sicher nicht tun wird, das sind irgendwelche Wiedergutmachungsansprüche zu akzeptieren.« Die Hauptverantwortung liege stattdessen in Chile, »denn die deutsche Regierung hat nicht in Chile die Diktatur gebaut oder daran mitgewirkt. Was wir betrauern und bedauern ist, dass deutsche Diplomaten in einer Zeit Menschenrechtsverletzungen und -verbrechen nicht ernst genug genommen haben.«

Dass Gauck seinem Erschrecken Ausdruck verlieh »wenn zum Beispiel deutsche Diplomaten jahrelang wegschauten, wenn in der deutschen Sekte ›Colonia Dignidad‹ Menschen entrechtet, brutal unterdrückt und gefoltert wurden, und dann gar der chilenische Geheimdienst dort foltern und morden konnte«, konnte die verschiedenen Opferkollektive nicht wirklich besänftigen. Der Rechtsanwalt und ehemalige Bewohner der »Colonia Dignidad« Winfried Hempel zeigte sich von diesen Worten enttäuscht: »Die Bundesrepublik Deutschland ist mitverantwortlich, da sie wusste, was in der ›Colonia Dignidad‹ vor sich ging und trotzdem nichts unternahm, um die Verbrechen zu unterbinden«, so Hempel. Es sei enttäuschend, dass Gauck während seines Besuches nicht mit einem einzigen Opfer gesprochen habe. »Wir verlangen, dass beide Staaten, Deutschland und Chile endlich Verantwortung für alle Opfergruppen übernehmen«, sagte der Rechtsanwalt Hernán Fernández, der maßgeblich an der Festnahme Schäfers im Jahr 2005 in Argentinien beteiligt war.

Um ihrer Enttäuschung über das verweigerte Gespräch mit dem Bundespräsidenten auszudrücken, sagten die Angehörigen Myrna Troncoso und Rosa Merino ihre Teilnahme an einem Empfang in der Botschafterresidenz am Mittwochabend ab. »Als Angehörige eines Verschwundenen möchte ich nicht an einem sozialen Empfang in der Residenz des deutschen Botschafters teilnehmen und anderen zuprosten. Wir haben erwartet, dass der Bundespräsident mit uns spricht und uns zuhört«, so Troncoso. Zu dem Empfang waren mehrere Hundert Personen geladen, darunter auch der deutsche Multimilliardär Horst Paulmann, der landwirtschaftliche Produkte der Sektensiedlung in seinen Supermarktketten vertrieb und enge Beziehungen zu Paul Schäfer unterhalten haben soll. Und nicht nur Paulmann: Unter den Gästen befand sich auch Reinhard Zeitner: Dieser wurde im Januar 2013 rechtskräftig im Verfahren um den systematischen sexuellen Missbrauch in der »Colonia Dignidad« wegen Kindesentziehung zu drei Jahren und einem Tag Haft verurteilt, ausgesetzt auf vier Jahre zur Bewährung. Es handelte sich um eine Verurteilung im selben Verfahren, in dem auch der Arzt Hartmut Hopp verurteilt wurde, der sich seiner Strafe durch Flucht in die Bundesrepublik entzog und bis heute straflos in Krefeld lebt.

Das Bundespräsidialamt ließ inzwischen mitteilen, es bedauere die Einladung Zeitners. »Wir haben großen Wert auf eine sorgsame Auswahl der Gäste gelegt - vor allem im Hinblick auf die Geschichte der ›Colonia Dignidad‹«, sagte eine Sprecherin des Bundespräsidenten am Donnerstag. »Wir bedauern mit Blick auf die Opfer sehr, dass diesem Maßstab nicht entsprochen wurde.«

Ein ambivalentes Resümee des Besuchs von Gauck zieht Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL): »Es ist positiv, dass das Thema ›Colonia Dignidad‹ ein solch breites Medienecho gefunden hat. Die Worte von Gauck blieben jedoch hinter den Erwartungen der Opfer zurück. Es hätte eine wichtige Symbolkraft gehabt, wenn Gauck den Angehörigen der Verschwundenen die Hand gereicht hätte. Mit dem Finger auf Chile zu zeigen hingegen hat im Fall ›Colonia Dignidad‹ traurige Tradition. Das hat jahrzehntelang eine Aufarbeitung verhindert und die Straflosigkeit begünstigt«, so der Wissenschaftler, der vorsichtig optimistisch in die Zukunft blickt: »Es gibt Anzeichen dafür, dass das Auswärtige Amt nach der Steinmeier-Rede nun konkrete Hilfsmaßnahmen für die Opfer der ›Colonia Dignidad‹ ins Auge fassen möchte.« Dabei sei jedoch eine Einbeziehung aller Opfer, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, unabdinglich. »Die Menschenrechte sind unteilbar. Beide Staaten tragen eine gemeinsame Verantwortung für alle Opfer«, so Stehle. Eventuell könnte ein gemeinsamer Generalstreik für Menschenrechte Gauck auf die richtige Spur bringen. Uruguay war ein Vorgeschmack.

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