Karl Marx? Karl May!

Warum der Musiker Rio Reiser heute mehr denn je von allen Seiten verehrt wird

  • Ivo Bozic
  • Lesedauer: 7 Min.

Sagen wir es so: Das ist doch wohl mindestens verdächtig, wenn jemand von Gregor Gysi, Claudia Roth, Herbert Grönemeyer, Jan Delay, autonomen Hausbesetzern, Sony Music, der »Bild«-Zeitung und durchweg allen Feuilletons gleichermaßen verehrt wird. Im »Spiegel« schrieb jetzt die frühere Wegbegleiterin Reisers und heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth: »Vor 20 Jahren ist Rio gestorben. Mein Rio. Unser aller Rio.« Und da haben wir es: »Unser aller Rio.« Kann man etwas Vernichtenderes über jemanden sagen? Zumal über jemanden, der erstens nie dazugehören wollte und der zweitens immer verzweifelt auf der Suche nach Liebe war? Ein Widerspruch? Nein. Oder ja: der Widerspruch jedes halbwegs vernünftigen Menschen. Und: der Widerspruch, von dem in der Bundesrepublik der 60er bis 80er Jahre eine linke anarchische Bewegung getrieben wurde, die einerseits unerbittliche Radikalopposition zu so ziemlich allem sein und andererseits nicht verhärten wollte, Menschlichkeit und hierarchielose Solidarität praktizierte. Manche hielten diesen Widerspruch nicht aus und bewaffneten sich oder schlossen sich einer Partei an, andere entschieden sich für die andere Seite, reisten in den Ashram und eröffneten ein biologisch-esoterisches Duftkerzenlädchen - zumindest in ihrem Kopf.

Wir müssen daher, bevor wir über die Bedeutung seines Werks für eine Generation von Revoluzzern reden, wohl über das sprechen, was Rio Reiser heute so mehrheitsfähig, so gefällig macht. Das Hamburger »Komitee für Unterhaltungskultur«, das am Vorabend von Reisers 20. Todestag ein Konzert organisiert hat, brachte es wohl unfreiwillig auf den Punkt: »Die Songtexte sind legendär und aktuell. Denn Unrecht und Gewalt, Machtgebaren und Krieg beherrschen noch immer das Tagesgeschehen.« Letzteres stimmt, spricht jedoch eben nicht für die Aktualität der Texte, sondern ganz im Gegenteil für ihre Zeitlosigkeit. Denn Unrecht und Gewalt waren auch schon vor 100, 1000 und 10 000 Jahren »aktuell«.

Der Autor

Ivo Bozic, geboren 1968, aufgewachsen in Westdeutschland und in linken Bewegungen sozialisiert, arbeitete zwischen 1992 und 1995 im Inlandsressort des »neuen deutschland« und anschließend bei der Tageszeitung »junge Welt«. 1997 war er Mitbegründer der Wochenzeitung »Jungle World«, deren Mitherausgeber er bis heute ist. Die ersten Ausgaben der »Jungle World« wurden in den Räumen der ehemaligen Wohngemeinschaft Rio Reisers am Tempelhofer Ufer in Berlin-Kreuzberg produziert.

Rio Reiser schrieb mit seiner Agit᠆rockband Ton Steine Scherben den Soundtrack einer Bewegung, die in besetzten Häusern das kollektive Zusammenleben ausprobierte, die den Staat verachtete und jede Autorität, die aber, so jedenfalls Reiser, eher dem Haschpfeifchen als dem Molotowcocktail zugewandt war. Und so gesehen ist das geradezu penetrante Bekenntnis zu ihm heute auch ein Ausdruck der Sehnsucht nach einer Zeit, als Politik noch einfach war. Man musste nur dagegen sein, schon stand man auf der richtigen Seite. Allein die Tatsache, dass die Scherben damals zu den Systemen in BRD und DDR gleichermaßen auf Distanz waren, stellte eine Distinktion dar, die schwer zu vereinnahmen war.

1992 war ich Hausbesetzer in Ostberlin und gleichzeitig junger Nachwuchsredakteur beim »neuen deutschland«, betreute dort die Jugendseite, als ich in dieser Funktion nach Fresenhagen zu einem Interview mit Rio Reiser fuhr. Auf dem nordfriesischen Land lebte der Künstler inzwischen mehr oder weniger allein, und ich war natürlich sehr aufgeregt, als mich Reisers damaliger Freund mit dem Auto vom Bahnhof abholte und zu dem Bauernhof brachte, in dem die Scherben-Kommune lange zuhause gewesen war. Reiser war im November 1990 in die PDS eingetreten. Ich wollte von ihm wissen, wie es dazu kam. Denn diesen Schritt konnten die wenigsten meiner Hausbesetzerfreunde verstehen, die bei jeder Gelegenheit Scherben-Lieder abspielten wie »Keine Macht für niemand«, »Macht kaputt, was euch kaputt macht«, den Rauchhaus-Song und »Die letzte Schlacht gewinnen wir«.

Reiser erklärte (»nd«, 31.7.1992), dass er nach der Wende das Gefühl hatte, dass mit dem Untergang der DDR auch jede linke Utopie zum Verschwinden gebracht werden sollte. Dem wollte er etwas entgegensetzen, obwohl oder auch gerade weil ja bekannt sei, »dass wir mit der SED genauso wenig am Hut hatten wie mit der CSU«. Außerdem mochte er Gregor Gysi. Tatsächlich war Rio Reiser nur zwei Jahre zuvor mit am Aufstand gegen die SED beteiligt, als er bei einem Konzert in der Werner-Seelenbinder-Halle in Ostberlin das Lied »Der Traum ist aus« sang und der ganze Saal voll Inbrunst die Zeilen mitsang: »Dieses Land ist es nicht. Wir haben nichts zu verlieren außer unserer Angst. Es ist unsere Zukunft, unser Land.« Was Rio für die BRD geschrieben hatte, stimmte eben auch in der DDR.

Es hätte auch in Botswana oder Papua-Neuguinea gestimmt oder sonst wo auf der Welt. Nicht, weil Reisers politische Analysen so tiefgreifend, sondern weil sie so naiv waren. Naiv im besten Sinne. »Ich glaube immer noch daran, dass das Gute im Menschen siegen wird. So ungünstig, wie die Sache im Moment auch aussieht«, sagte er mir. »Aber was bleibt einem denn anderes übrig? Ich meine, was soll ich sonst machen? Aktien kaufen?« Hoffnung war es, die ihn antrieb. Eine sehr laue Hoffnung, die aber reichte, um das Bestehende aus ganzem Herzen abzulehnen. Gleichzeitig hatte er, wie er bekannte, auch »Angst vor Hoffnungen« und Angst davor, dass sie enttäuscht werden könnten. Vielleicht ist »Hoffnung« auch das falsche Wort, vielleicht muss es »Sehnsucht« heißen. Jedenfalls: Wie man zu einer anderen Gesellschaft kommt und wie genau die dann organisiert sein soll, das war nicht sein Thema.

Ich war damals, wie offenbar jeder, der Rio Reiser getroffen hat, fasziniert von diesem melancholischen, selbstironischen, zerbrechlichen und doch so positiven, offenen Menschen. Ihm waren die Bibel und Karl May näher als Bebel und Karl Marx, das kleine Wortspiel, der gelungene Kalauer wichtiger als die gesammelten Blauen Bände. Doch die brauchte er auch nicht. Er war eine so durch und durch emanzipierte Persönlichkeit, dass für ihn keine graue Theorie notwendig war, um die richtigen Worte zu finden für die Rebellion.

Doch Rio Reisers Leben war nicht allzeit heiterer Sonnenschein, wie seine Autobiografie und auch die gerade erschienene Biografie zeigen, die sein Bruder Gert Möbius verfasste und in der Auszüge aus Rios Tagebüchern zu lesen sind. Er hat lange mit seinem Outing als Schwuler gekämpft, denn selbst in der radikalen Linken war Homosexualität in den Sechzigern noch ein Tabuthema. Reiser hat auch mit den Linken gehadert. In sein Tagebuch schrieb er 1974: »Jetzt sitze ich hier wieder an meinem Schreibtisch und grübele darüber nach, was ich für Texte schreiben soll, und eigentlich ist es nicht so, dass mir nichts einfällt, sondern das Problem ist, dass ich dauernd daran denken muss, was die Linken dazu sagen, die haben ja auch ganz bestimmte Erwartungen an Ton Steine Scherben, und wenn die nicht erfüllt werden, sind die sauer.«

Reiser war oft traurig, depressiv. Seine Sehnsucht war nicht nur eine politische nach einer besseren Welt, sondern auch eine persönliche nach Anerkennung, nach Liebe. Er war aber nicht bereit, sich dafür zu verbiegen. »Jeder muss gucken, dass er sich treu bleibt. Verräter kann man nur an sich selber werden«, sagte er mir 1992. Auch so ein Satz, der so naiv ist, dass er immer richtig ist. Und: Der wirklich richtig ist. In seiner Solokarriere ab 1985, und eigentlich auch schon auf der 1981 erschienenen vorletzten Scherben-Platte (»IV«), der schwarzen, Rios Lieblingsalbum, waren seine Songs immer noch politisch, aber weniger plakativ. Politik und Liebe - das war für Reiser ohnehin eins.

1996 verstarb er - zwar körperlich angeschlagen, aber dennoch überraschend - im Alter von nur 46 Jahren. Es fühlte sich für mich an, als sei ein Freund gestorben, was absurd ist, weil wir uns nur einmal getroffen hatten. Doch so ging es unzähligen Menschen. Vielleicht, weil sich viele mit ihren Ängsten und Sehnsüchten in ihm gesehen haben. Welch ein Verlust.

Sein musikalisches Werk ist ein Stück Geschichte, ein Stück linker Geschichte, des besten Teils davon. Und doch darf die Frage gestattet sein, was wäre, würde er heute noch leben. Wie hätte er mit seiner intelligenten Naivität auf 9/11 reagiert? Was würde er über die Entwicklungen im Nahen Osten denken? Was über Putin? Wir wissen es nicht. Er hat, bevor er zur PDS ging, zweimal den Wahlkampf der Grünen unterstützt und 1992 die von Gregor Gysi (PDS) und Peter-Michael Diestel (CDU) initiierten »Komitees für Gerechtigkeit«, eine Art ostdeutsche Querfront also, die empörten ehemaligen DDR-Bürgern, die um ihre kulturelle Identität bangten und sich abgehängt fühlten, eine Stimme geben wollte. Reiser unterstützte die Komitees, weil er hoffte, dass unterschiedliche Menschen dort miteinander ins Gespräch kämen, und zwar erklärtermaßen unabhängig davon, ob sie Linke oder Rechte waren. Wie hätte Reiser zu den umstrittenen Montagsmahnwachen für den Frieden gestanden?

Diese Fragen sind hypothetisch. Politik war für Reiser keine Bekenntnisfrage. Er war sich nur bewusst darüber, dass alles, was man tut, also auch, was man nicht tut, die Welt verändert. Und dass sich die Welt irgendwie in die richtige Richtung ändert, dazu hat er mit jedem Atemzug beizutragen versucht. In seiner Musik können wir daran teilhaben.

Gert Möbius: »Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser«, Aufbau-Verlag, geb., 351 S., 22,95 €.

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