Unsere ulkige Nobelpreisträgerin
Von der Marxistin zur »österreichischen Sprachkünstlerin«. Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek wird 70
»In Wirklichkeit ist es gar nicht so schlimm. In Wirklichkeit ist es schlimmer.« In diesen zwei Sätzen aus Elfriede Jelineks Anfang der 70er Jahre erschienenem, ganz im Zeichen der Illusions- und Mythendestruktion stehenden Roman »Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft«, den bedauerlicherweise - das scheint das Schicksal guter Romane - kaum jemand gelesen hat, steckt bereits die halbe Ästhetik der österreichischen Schriftstellerin: Die Lüge und das falsche Bewusstsein sind im Kapitalismus allgegenwärtig (in Wirklichkeit ist es gar nicht so schlimm). Die sozialen Gewaltverhältnisse, in denen wir leben, werden verschleiert, und jenen unter uns - die wir längst von Fernsehunterhaltung und Reklame erfolgreich infantilisiert sind -, denen es gelingt, hinter die Fassade zu sehen, sehen das nackte Grauen, das man mit schönem Schein fortwährend zu übertünchen sucht (in Wirklichkeit ist es schlimmer).
Jelinek begann ihre schriftstellerische Karriere als Marxistin und Feministin zu einer Zeit, als dies noch keine Schimpfworte waren, und insbesondere ihr Frühwerk legt Zeugnis davon ab: Der Leser trifft dort nicht auf die üblichen Heldinnen und Helden, die mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen die abenteuerlichen Landschaften der konventionellen Befindlichkeits- und Hurraliteratur durchwandern, und er muss auch nicht zum hundertsten Mal die lügenhafte »ewige lürik von leben und freudebringender arbeit« (Jelinek) lesen. Jelineks Romane, voll sinisterer Komik und harscher Kapitalismuskritik, müssen vielmehr als schwarze Panoramen, als Gesellschaftsanalysen von äußerster Negativität verstanden werden. Sie zeigen eine bis ins Privateste von Marktmechanismen und faschistischem Gedankengut durchdrungene, gänzlich warenförmig gewordene Gesellschaft, »mikrosoziologische Studien menschlicher Zerstörungen«, wie der Wiener Philosophieprofessor Rudolf Burger die Romane einmal nannte. Oder, wie die Austria Presse-Agentur (APA), die größte nationale Nachrichten- und Presseagentur Österreichs, es für Menschen mit Lese- und Denkschwäche formuliert: »In ihrer literarischen Arbeit übt Jelinek immer wieder scharfe Kritik an der Männer- und Klassengesellschaft und setzt sich kritisch mit den Themen Sexualität, Gewalt und Macht auseinander.«
Es gab in der Bundesrepublik der 70er Jahre neben den Romanen der damals völlig unbekannten Jelinek zwar auch noch die bis in die 80er Jahre hinein ernsthaft zwischen diversem Empfindsamkeits- und Selbsterfahrungsgeschreibsel unter »Frauenliteratur« einsortierten Bücher Gisela Elsners, doch diese unterschieden sich, was die Erzähltechnik und den Umgang mit sprachexperimentellen Verfahren anging, deutlich von denen ihrer österreichischen Kollegin. Während Elsner eher zum Mittel der Satire griff und zur grotesken Überzeichnung tendierte, insgesamt aber einem am Realismus orientierten Erzählmodell verhaftet blieb, wählte Jelinek Verfahren, bei denen sprachexperimentelle Techniken, wie man sie etwa von den Dichtern der Wiener Gruppe kannte (Wiener, Rühm, Bayer, Artmann), mit marxistischer Ideologiekritik verknüpft werden sollten. Durch Verfremdung, Entstellung und Destruktion von (etwa in der Reklame und den Medien) vorgefundenem Sprachmaterial sollte die gesellschaftliche Realität kenntlich gemacht werden. Der »natürlichkeitsschleim«, der in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft »alles überzieht und verklebt« (Jelinek), sollte sichtbar gemacht werden. So entstand eine formal radikale Literatur, die ganz und gar die Identifikationswünsche des Lesers verweigerte.
Jelinek wollte mit ihrem ambitionierten literarischen Programm aus Sprach-, Medien-, Patriarchats- und Faschismuskritik ihren Lesern und Leserinnen veranschaulichen, wie der Kapitalismus, die Medienverdummungsmaschinerie und der noch immer mit dem Faschismus liebäugelnde Kleinbürger im Innersten funktionieren.
Ihre Roman- und Dramenfiguren gibt es zwar wirklich: die malträtierten Ehefrauen, die verblödeten Jugendlichen, die soldatischen Sportler, die schlipstragenden Nazis, und doch sind sie keine Individuen. Zwar tragen sie Namen wie Etiketten mit sich herum, die Figuren selbst bleiben aber leer, sind nicht mit einem wahlweise komfortablen oder zwickenden und zwackenden Innenleben ausgestattet, bleiben reine Sprach- bzw. Ideologiebehälter. Rudolf Burger schreibt über Jelineks Figuren: »Die Menschen der Handlung sind im buchstäblichen Sinn dehumanisiert: zur unvermittelten Einheit von biologischer Bedürftigkeit und sozialer Determination.« Es sind prototypische Figuren, verdinglichte Körper, deren Reden und Handeln nichts innewohnt außer der blanken Ideologie, mit der man sie vollgestopft hat, gleichermaßen »Opfer und Exekutoren gesellschaftlicher Verhältnisse«. Die Schönheit eines Jelinek-Textes, so Burger, liege darin, »dass er das versteckte Grauen kleinbürgerlicher Alltagsbanalität mit sezierender Genauigkeit darstellt und die Zerstörung des Humanen bis in die feinsten Verästelungen der sexuellen Wunschproduktion verfolgt«.
Jelineks Theaterstücke dürften zu den am wenigsten verstandenen überhaupt gehören, weil in aller Regel nicht begriffen wird, dass hier kein Illusionstheater stattfindet, keine individuellen Subjekte, keine klassischen Bühnenfiguren miteinander oder zum Publikum sprechen. »So spricht doch in Wirklichkeit kein Mensch«, moniert der missgelaunte Theaterabonnent, der die schönen, alten Lustspiele von früher vermisst, während das bürgerliche Pärchen (sie Biologielehrerin, er IT-Fachmann) nicht versteht, warum man sich unbedingt »diese ganze Flüchtlingsgeschichte« jetzt auch noch im Theater anschauen muss, wo man doch hergekommen ist, um sich bitteschön auf gehobenem Niveau zu amüsieren.
Nein, mit der handelsüblichen schaumbadwarmen, sich dem Leser anbiedernden, im Wesentlichen aus Psychologie und Kitsch zusammengemanschten Literatur hat Jelineks Werk nichts gemein. Der österreichische Staat wurde in ihm stets nur als post- bzw. präfaschistischer beschrieben, und es bietet weder einen wie auch immer gearteten »Realismus« noch positive Utopien an.
Dazu passt auch die geradezu rührende Reaktion der Schriftstellerin aus dem Jahr 2004 auf die überraschende Nachricht, dass ihr der Literaturnobelpreis verliehen werden solle: »Ich verspüre eigentlich mehr Verzweiflung als Freude«, lautete ihr erster wunderschöner Kommentar, bevor sie etwas sagte, was einen schließlich endgültig beruhigte: »Ich wünsche mir nicht, dass der Preis für Österreich eine Bedeutung hat. Ich bin zu dieser Regierung auf völliger Distanz.«
Was freilich nicht verhindern konnte, dass ausgerechnet der österreichische Staat und das offizielle Österreich, die Jelinek noch in den 90er Jahren als eine Art üble linksradikale Hexe und Nestbeschmutzerin wahrnahmen, heute mit »ihrer« Literaturnobelpreisträgerin stolz für sich werben wie die Stadt Salzburg mit ihren Mozartkugeln. Eine Wirklichkeit, die sich einem darstellt wie eine fürchterliche Parodie auf einen Jelinek-Roman. So schrieb kürzlich etwa die oben genannte APA von Elfriede Jelinek als der »großen österreichischen Sprachkünstlerin, die sich zurückgezogen hat, um den zudringlichen Blicken der Öffentlichkeit zu entrinnen«. So wird die über Jahrzehnte hinweg insbesondere in FPÖ- und ÖVP-Kreisen leidenschaftlich gehasste und vielfach beschimpfte kritische Schriftstellerin gleichzeitig entpolitisiert und als verschrobene Literaturtante dargestellt, eingereiht irgendwo zwischen Wiener Hofburg und Spanischer Reitschule, als menschliche Tourismusattraktion: Da schau her, unsere ulkige Nobelpreisträgerin.
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