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Ein Meisterstück des politischen Porträts
David I. Kertzer bringt den Satanspakt zwischen italienischem Faschismus und katholischer Kirche brillant auf die Bühne des Buches
Geschichte wird geprägt von einer Ambivalenz, die sich treffend in dem harmlos klingenden Verb »vergehen« sammelt. Die Zeiten vergehen. Die Menschen ebenso. Doch ehe die Menschen vergehen, vergehen sie - sich. Gegen sich selbst. Gegeneinander. Das ist das tiefe, gleichwohl offene Geheimnis, warum Geschichte, warum »Vergangenheit« eben oft nicht vergeht, sondern weitergeht: begleitend, bedrückend, bedrängend. Und daraus der Wunsch erwächst, diesem Bedrängen durch Verdrängen zu begegnen.
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* David I. Kertzer: Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus. A. d. Engl. v. Martin Richter. Konrad Theiss Verlag. 608 S., geb., 38 €.
David I. Kertzers Buch »Der erste Stellvertreter« widmet sich einem solchen bedrängend-verdrängten Kapitel.
1922 bis 1939 waren in der europäischen Geschichte Jahre, die wegbereitend der schlimmsten Katastrophe vorausgingen, die den Kontinent, die die Welt in diesem an Katastrophen wahrlich nicht armen 20. Jahrhundert traf. Mit dem ebenso operettenhaft wie brutal inszenierten »Marsch auf Rom« erputschte sich 1922 der Politabenteurer Benito Mussolini die Macht in Italien. Das Königreich war zwar dank späten Kriegseintritts auf der Gewinnerseite des 14/18-Völkerschlachtens, wurde aber von der Nachkriegskrise direkt in die verlogenen Verlockungen einer autoritären Staatslösung getrieben. Im selben Jahr trat in Rom, wo der »erste Faschist« (so der deutsche Mussolini-Biograf Hans Woller) seinen Triumph feierte, der »erste Stellvertreter« sein Amt an: Papst Pius XI. Der deutsche Titel des Kertzer-Buches »The Pope and Mussolini« spielt an auf Rolf Hochhuths 1963 uraufgeführtes Drama »Der Stellvertreter«, das die bis heute andauernde Debatte über das öffentliche Schweigen von Papst Pius XII. zur Verfolgung und Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs eröffnete.
Benito Mussolini (geb. 1883), Ministerpräsident und »Duce«, und Achille Ratti (geb. 1857), elfter Papst mit dem Namen Pius: Zwei Männer, deren Weg fortan von Anhängig- und Abhängigkeiten zum jeweils anderen geprägt sein sollte - bis 1939, dem Todesjahr von Pius XI. und Wahljahr von Pius XII. Während sich der eine Mann im skrupellosen Handstreich Gewalt und Macht über ein zentrales Land Europas verschafft hatte, sorgte sich der andere Mann um den schwindenden Einfluss seiner numinosen Institution, die 1870 im Gefolge der staatlichen Einigung Italiens ihres irdischen Territoriums verlustig gegangen war. Während der eine Mann nach der Akklamation seiner profanen Herrschaft durch die katholischen Gläubigen gierte, wollte der andere Mann die profane Herrschaft des Staates wieder mit der Sakralität der katholischen Kirche durchdringen. Klerikalfaschismus hieß der gemeinsame politische Nenner dieser beiden von sozialem Herkommen und intellektueller Prägung so grundverschiedenen Männer.
David I. Kertzer, Professor für Sozialwissenschaft, Anthropologie und italienische Studien an der Brown University in Providence (US-Bundesstaat Rhode Island), hat jahrelang in den Archiven des Vatikans in den Dokumenten über diese brisanten und für die Romkirche heiklen Jahre geforscht, die der Heilige Stuhl inzwischen der wissenschaftlichen Recherche geöffnet hat. Den Stoff der Akten formte der begnadete Erzähler zu einem Stoff, aus dem wohl die Träume jener sind, die jene Ehrung erstreben, die nach dem Journalisten und Zeitungsverleger Joseph Pulitzer benannt ist. Der Pulitzer-Preis, den Kertzer für sein neuestes Werk erhielt, war zweifellos ein Volltreffer. Auch wenn das Wort von einer »Parallelbiografie Mussolinis und Pius’ XI.« (Hubert Wolf im Vorwort zur deutschen Ausgabe) mit Blick auf das in der Antike von Plutarch geprägte Genre etwas vermessen ist: Das Verweben und Verknüpfen der Lebensstränge dieser politischen Protagonisten, der Wechsel der Perspektiven und die Einbettung des Personalen in das Nationale, Internationale und das historisch Dimensionierte sind ein Meisterstück zeithistorischer Porträtierung.
1929 ist das Jahr, da der Höhepunkt des Arrangements zwischen Faschismus und Romkirche, die beide vom Anspruch des Totalitären umgetrieben werden, erreicht ist. Mit den Lateranverträgen zwischen dem italienischen Staat und dem Heiligen Stuhl wird der Vatikan mitten in der »Ewigen Stadt« wieder zu einem souveränen Staatsgebilde. Zugleich sichert das Konkordat der katholischen Kirche einen kaum zu überschätzenden, einklagbaren Einfluss auf die kulturelle Infrastruktur. Bildungswesen, Soziales, Familiäres ... - die Una Sancta hat wieder etwas zu sagen im Reich von König Viktor Emanuel III. Doch während Letzterer zunehmend zur Marionette seines virilen und selbstherrlichen Ministerpräsidenten wird, gärt es im Klerus inner- und außerhalb der Leoninischen Mauern der Vatikanstadt. Und der Schwarzhemden-Mob lässt sich ungern auf eigenem Terrain die faschistische Agitation von Pfaffengeschwätz verwässern. Es sind vor allem die Attacken des Regimes und der Faschistischen Partei auf die Laienbewegung Katholische Aktion, die den Unmut des Papstes schüren und zu Interventionen bei seinem ungeliebten Partner veranlassen, mit dem er doch auf Gedeih und Verderb verbunden ist. Mussolini wiederum muss erkennen, dass der Fels Petri ein sperriger Brocken ist.
Aber Pius XI. muss zunehmend erkennen, dass der Pakt, mit dem er seiner Kirche zu neuem Glanz und alter Größe verhelfen wollte, ein Pakt mit dem Teufel ist. Die flächendeckend rasante rassistische Propaganda, die innigen Beziehungen zum kirchenfeindlichen deutschen Nationalsozialismus, der Terror im Innern und die Aggression nach außen (Überfall auf Äthiopien) - der Papst, die Kurie, der ganze katholische Klerus müssen bei Strafe ihrer Unterwerfung dem Wahn des Duce und seiner Satrapen und Paladine huldigen. Als Gegenleistung hält der faschistische Staat die Konkurrenten der »Einen Kirche« möglichst in Bodennähe: Protestanten, Freimaurer und ... Juden.
Als 1938 in Anlehnung an das deutsche Vorbild in Italien Rassengesetze in Kraft treten, befürchten beide Seiten den Bruch des Konkordats - zu ihrem jeweiligen Nachteil. Doch es ist nicht die Sorge um das Schicksal der Juden als Juden, die dem greisen, inzwischen schwer kranken Pontifex schlaflose Nächte bereitet. Ihm geht es lediglich um Juden, die die »Synagoge Satans« verlassen haben und zum Katholizismus konvertiert sind, und um jene Juden, die in einer »Mischehe« mit Katholiken leben. Eine überschaubare Zahl. Mussolini bleibt hart, will aber den Bruch abwenden und vor allem eine Rede des Papstes verhindern, die dieser zum 10. Jahrestag der Lateran-Verträge halten will und von der eine harsche Verurteilung des Regimes erwartet wird. Einen Tag vor seiner beabsichtigten Rede stirbt Pius XI. Der neue »Stellvertreter«, der bisherige Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, suggeriert mit dem Namen Pius XII. Kontinuität. Wie sein Vorgänger sieht er den Hauptfeind im Kommunismus. Mit dem Faschismus hatte er kaum Reibungsflächen.
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