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Der Rocker und der Sekretär
Heinz Rudolf Kunze und Egon Krenz im Gespräch
Sie kennen sich seit Juni 1988: Egon Krenz und Heinz Rudolf Kunze. Sie begegneten einander, als Künstler aus mehreren Länder im Rahmen der Aktion »Für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa« in der DDR auf Tournee waren.
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* Diether Dehm (Hg.): Ich will nicht das letzte Wort. Heinz Rudolf Kunze und Egon Krenz im Gespräch. Verlag Neues Leben. 160 S., br., 12,99 €.
Nun hat Diether Dehm den letzten SED-Generalsekretär und den Rocksänger erneut zu einem Gespräch zusammengebracht. In der Regel ist Kunze der Fragende, und Krenz gibt Auskunft über gravierende Entwicklungen der DDR und wesentliche Aspekte internationaler Politik. Entweder war er im Voraus auf den zu besprechenden Themenkatalog gut eingestellt, oder der Text ist nachgearbeitet worden. Anders lässt sich die Vielzahl der wortwörtlichen Zitate nicht erklären. Aber das braucht nur den quellenkritischen Historiker zu interessieren. Der normale Leser kann dankbar sein, mit welch hohem Grad an Informiertheit und Sachkenntnis der letzte Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzende der DDR auf seinen Gesprächspartner eingeht.
Die Palette der zur Diskussion stehenden Ereignisse, Entscheidungen, Motivationen ist ziemlich breit. Und Krenz vermag Aufschlussreiches darüber mitzuteilen, welche Rolle dabei bestimmte Personen gespielt haben. Allzu viel soll davon hier nicht preisgegeben werden, denn es lohnt sich, die Texte selbst zu lesen. Nur als Anreiz seien einige Fragen benannt, zu denen Neuigkeiten oder bedenkenswerte Sichtweisen zu erfahren sind: Worin bestanden - abgesehen von den Meinungsverschiedenheiten in Sachen Perestroika - die Differenzen zwischen Honecker und Gorbatschow? Wie gestalteten sich die Kontakte zwischen der DDR-Führung und Künstlern, und wie reagierte die DDR, als Christa Wolf als Kandidatin für den Literaturnobelpreis im Gespräch war? Warum bot die DDR den RAF-Aussteigern Domizil, und wie stand sie überhaupt zum internationalen Terrorismus? Was lief 1989 zwischen der DDR-Führung und dem Vatikan? Geradezu sensationell: Wie war die DDR 1977 in die Befreiung der in Mogadischu festgehaltenen Geiseln der Flugzugentführer involviert?
Dass Krenz - und das ist ihm gut gelungen - mit seinen Antworten auf Tatsachen und Zusammenhänge hinlenkt, bei denen die DDR in gutem Lichte erscheint oder ihre Optionen zumindest nachvollziehbar sind, wird niemanden überraschen. Da wird so manche Verleumdung des zweiten deutschen Staates mit handgreiflichen Fakten widerlegt. Es ist sein gutes Recht - und er sieht sich hier in einer besonderen Pflicht -, Verfälschungen, Verzerrungen, tendenziösen Vereinseitigungen und Verabsolutierungen entgegenzutreten, die in der dominierenden Historiografie zur DDR-Geschichte und im Mainstream der Medien gang und gäbe sind. Wenn er oft auf die Zwänge des Kalten Krieges, auf Grenzen der Handlungsspielräume der DDR, auf das Wechselspiel von Aktionen und Reaktionen zu sprechen kommt, erweist er sich als historisch geschulter Mann. Er ist indes auch Reizthemen nicht ausgewichen, mit denen in besonderem Maße gegen die DDR Stimmung gemacht wird - zum Beispiel »Zwangsadoptionen« und »Jugendwerkhöfe«.
Krenz verschweigt nicht, wo und wann nach seinem heutigen Erkenntnisstand falsch entschieden und gehandelt wurde. Zu den tiefsten Ursachen des Scheiterns - der Missachtung demokratischer Rechte und Freiheiten, dem verfehlten Parteimodell, den so nicht gerechtfertigten Erwartungen an die gesellschaftsverändernde Rolle der in Händen des Staates vergesellschafteten Produktionsmittel und anderen strukturellen Gebrechen - dringt das nur ansatzweise vor. Doch danach hat Kunze auch nicht wirklich gefragt.
Der Leser mag nicht alle Ansichten von Krenz teilen, und Kunze war sicher nicht in jedem Punkte zu überzeugen. Dennoch - ein rechthaberischer Entschuldigungsversuch eines DDR-Spitzenfunktionärs tritt uns in diesem Buch nicht entgegen. Keineswegs hat sich Krenz aus der Verantwortung für den Fehlschlag der DDR herausgenommen. Er bekennt sich in verschiedenen Zusammenhängen explizit zu eigenen Fehlern. Das wäre auch manchen Politikern zu wünschen, die heute das Sagen und die gegenwärtige weltweite Misere mit zu verantworten haben. Aber dazu müssen sie wohl auch erst das offenkundige Debakel ihrer Politik selbst erleben.
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