Das weltgeschichtliche Kind

Günter Müchler schildert das kurze Erdendasein von Napoléon François Joseph Charles Bonaparte

Nach dem Willen des Vaters sollte er der mächtigste Herrscher Europas werden. Tatsächlich starb er in jungen Jahren als Gefangener Metternichs. Als die Todesnachricht durch die Metropolen Europas ging, witterten viele einen Giftmordanschlag. Elf Jahre zuvor hatte sein Erzeuger, Napoléon Bonaparte, in Longwood House auf St. Helena im Südatlantik die Augen für immer geschlossen. Der Kaiser der Franzosen, Welteroberer und nunmehriger teuerster britischer Gefangener soll, so auch die neuere Forschung, einer Arsenvergiftung erlegen sein.

Günter Müchler: Napoleons Sohn. Biographie eines ungelebten Lebens.
Theiss Verlag. 365 S., geb, 24,95 €.

Das Erdendasein von Napoléon François Joseph Charles Bonaparte währte vom 20. März 1811 bis zum 22. Juli 1832. Er starb mit 21 Jahren in Wien an Tuberkulose. Er selbst sah sein Leben als nichtig an, wie er kurz vor seinem Ende einem Freund gestand: »Meine Geburt und mein Tod, das ist meine ganze Geschichte.« Dabei war seine Mitgift märchenhaft, vermerkt Günter Müchler: Als Abkömmling zweier Kaiser winkte ihm eine glanzvolle Zukunft. »Mit Napoléon, dem Kind der Revolution als Vater, und Marie Louise, der Großnichte der von der Konterrevolution heiliggesprochenen Marie-Antoinette als Mutter, war er die Frucht, die aus dem Neuem und aus dem Alten kam.« Also gleichsam These und Antithese. Gerade dies erwies sich als Fluch. Er konnte kein selbstbestimmtes Leben führen. »L'Aiglon«, Adler, wie ihn Victor Hugo nannte und diesem folgend auch der Biograf nennt, ist 1814, nach der Niederlage seines Vaters in der Völkerschlacht bei Leipzig und dessen Verbannung auf die Insel Elba, als Dreijähriger aus Frankreich nach Österreich entführt worden. Er sei dort zu einem blendend aussehenden jungen Mann herangereift, dessen Melancholie die Frauen entzückte. Heißt es. Gefangen in einem goldenen Käfig, beflügelte er die Fantasie der Zeitgenossen. »In der Legende wurde das ›weltgeschichtliche Kind‹ (Varnhagen von Ense) zum unglücklichen romantischen Prinzen, den keine schöne Fee erlöste, weil ihn tyrannische Mächte bis zuletzt eingesperrt hielten.« Die Nachwelt gedachte seiner als eines wehrlosen Opfers. »Dabei waren Kaiser Franz und Metternich keine Sadisten«, stellt Müchler klar. Der Kaiser mochte seinen Enkel, und auch Metternich lag es fern, Rache am Kind zu nehmen für die Taten des Vaters. Zumal er selbst 1809/10 die Ehe Napoleons mit der österreichischen Erzherzogin Marie Louise eingefädelt hatte. Doch auch die Rezensentin ertappt sich bei mitleidigen Gefühlen während der Lektüre, obwohl es dem Knaben an nix mangelte, vor allem nicht an herrschaftlichen Titeln, die er sogar von den Bezwingern seines Vaters verliehen bekam. Obendrein war dessen Schicksal kein einmaliges in der Weltgeschichte. Man denke nur an Caesarion, das Kind von Cäsar und Kleopatra. Oder an den Spross des Spartakus. Hitler wiederum glaubte mit Stalins Sohn ein Faustpfand zu haben.

Die Geschichte des Sohnes ist natürlich auch eine Geschichte über den Vater. Die charmante wie kluge Joséphine, »die ihn die Liebe gelehrt und ihn in die Politik eingeführt hat«, wie Bonaparte stets betonte, konnte ihm keine Kinder schenken. Der Narziss Napoléon glaubte erstaunlicherweise zunächst, es läge an ihm, bis einer seiner Affären ein Kind entsprang. Den zweiten Beweis seiner Zeugungsfähigkeit lieferte die schöne Maria Walewska, die - wie es die polnisch-nationalistische Legende will - aus patriotischen Motiven zum Diktator ins Bett stieg. Marie Louise war keine Schönheit, aber blutjung. Die Trauung fand am 2. April 1810 im Louvre statt. Ein Jahr darauf erblickte der Erbe und »König von Rom« das Licht der Welt und wurde in ganz Frankreich - vom armen Volke wohl eher nicht - gefeiert.

Über seinen Tod hinaus blieb er Spielball der Politik. Dezember 1940 beförderte die Wehrmacht »auf Befehl des Führers« dessen sterbliche Überreste von Wien nach Paris, um den Sohn neben dem Vater im Invalidendom beizusetzen. Ein perfider Propagandacoup.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!