Wissenschaft und Barbarei
Vor 30 Jahren starb der italienische Chemiker, Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Primo Levi
Anfang der 1990er Jahre kam ein bemerkenswerter Dokumentarfilm in deutsche Kinos: »Der Pannwitzblick« von Didi Danquart. Darin berichten behinderte Menschen über ihr Leben in einer Welt, in der sie sich von den Blicken der »Normalen« oft aussortiert fühlen. So wie Udo Sierck, Mitbegründer der autonomen Behindertenbewegung in der Bundesrepublik. »Der Pannwitzblick, der ist immer da. Man kann ihn täglich spüren.«
Viele werden sich jetzt vermutlich fragen: Was ist der Pannwitzblick? Der Ausdruck geht zurück auf den italienisch-jüdischen Chemiker Primo Levi, der von Februar 1944 bis Januar 1945 im Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz für die I.G. Farben Zwangsarbeit leisten musste. Während dieser Zeit wurde er dem »Chemie-Kommando« zugeteilt und bekam die Order, zum Nachweis seiner Eignung eine Prüfung abzulegen. Als Prüfer fungierte ein gewisser Dr. Wilhelm Pannwitz aus der Unterabteilung Polymerisation der Buna-Werke. »Ich, Häftling 174517, stehe in seinem Arbeitszimmer, einem richtigen Arbeitszimmer, klar, sauber und ordentlich, und mir ist, als müsste ich überall, wo ich hinkomme, Schmutzflecken hinterlassen«, erinnerte sich Levi später. »Wie Pannwitz mit Schreiben fertig ist, hebt er die Augen und sieht mich an.« Dieser Blick des Nazi-Doktors ließ Levi fortan nicht mehr los. Es sei kein Blick zwischen Menschen gewesen, sondern einer zwischen zwei Lebewesen aus verschiedenen Welten. Levi spürte, was Pannwitz’ Blick ihm sagen wollte: »Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist.« Festzustellen bleibe lediglich, ob da nicht noch ein verwertbarer Faktor vorhanden sei.
Die Prüfung verlief für Levi zufriedenstellend. Worüber er seine Abschlussarbeit als Chemiker geschrieben habe, wollte Pannwitz wissen. Außerdem interessierte er sich für ein Spezialgebiet des Prüflings, die Messung dielektrischer Konstanten. Levi bestand den Test und fasste neue Hoffnung, die Hölle von Auschwitz zu überleben. Zunächst jedoch musste er bei Wind und Wetter schwere Chemikaliensäcke schleppen, an denen er sich mehrmals die Haut verätzte. Allen Schikanen zum Trotz »entwickelten Levi und andere Häftlinge in Monowitz eine enorme geistige Widerstandskraft«, schreibt der britische Historiker John Cornwell. So nahm Jean Samuel, ein Freund Levis, an Seminaren teil, die der als Schreiber im Krankenrevier tätige französische Mathematiker Jacques Feldbau organisiert hatte. »Auf den langen Märschen zur Arbeit und zurück ins Lager diskutierten die Häftlinge mathematische Probleme, und sie tauschten ihr kostbares Brot gegen Bücher über logarithmische Gleichungen ein, die ihre Wärter für sie gekauft hatten.«
Als Levi endlich ins Labor beordert wurde, waren die Tage von Monowitz bereits gezählt: »Die Elektrozentrale steht still, die Methanol-Destilliersäulen existieren nicht mehr, die Gasometer des Acetylens sind in die Luft geflogen.« An echte chemische Forschungsarbeit war unter diesen Umständen nicht zu denken. Wenige Tage vor dem Eintreffen der Roten Armee erkrankte Levi an Scharlach. Er kam in den Krankenbau und entging so den berüchtigten Todesmärschen. Nach seiner Befreiung und einer Odyssee durch mehrere europäische Länder kehrte er am 19. Oktober 1945 zurück nach Turin.
26 Jahre zuvor war er hier als Sohn liberal-jüdischer Eltern geboren worden. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums schrieb er sich an der Universität Turin für das Fach Chemie ein. Obwohl die 1938 in Italien erlassenen Rassegesetze Juden vielerlei Beschränkungen auferlegten, gelang es Levi, sein Studium 1941 abzuschließen. Seine Dissertation wurde mit der Bestnote »summa cum laude« bewertet. Unter anderem hatte er sich darin mit der Asymmetrie des Kohlenstoffatoms beschäftigt. Da sein Abschlusszeugnis jedoch den Vermerk »von jüdischer Rasse« enthielt, fand er zunächst keine Anstellung. Schließlich kam er in einer Asbestmine unter, wo er ein Verfahren zur Gewinnung von Nickel entwickeln sollte, das im Abfall der Grube nur in sehr geringer Konzentration vorhanden war. Dass ihm der Erfolg versagt blieb, nahm Levi gelassen. Immerhin habe er so nicht zur Verlängerung des Krieges beigetragen, erklärte er später. 1942 ging er nach Mailand und forschte für einen Schweizer Pharmakonzern an Diabetes-Mitteln auf pflanzlicher Basis.
All diese Begebenheiten aus seinem Berufsleben schildert Levi in seinem 1975 veröffentlichten Buch »Das periodische System«, das von der britischen Royal Institution 2006 zum »besten populären Wissenschaftsbuch aller Zeiten« gekürt wurde. Damit überflügelte es die Werke von so renommierten Autoren wie Richard Dawkins, James Watson, Oliver Sacks und Konrad Lorenz. Auf ungewöhnliche Weise knüpft Levi in seinem Buch die Eigenschaften von 21 chemischen Elementen an die Charakteristika verschiedener Personen und historischer Situationen. Im Kapitel »Gold« erfährt der Leser, dass Levi sich im Herbst 1943 einer antifaschistischen Partisanengruppe anzuschließen versuchte. Doch schon kurz darauf geriet er in Gefangenschaft und kam in ein für Juden eingerichtetes Lager bei Modena. Vor hier aus wurde er 1944 nach Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg arbeitete Levi als Laborchemiker in der Industrie, bevor er sich ab 1977 ganz dem Schreiben widmete. Weltweiten Ruhm erlangte er vor allem mit seinem Buch »Ist das ein Mensch?«, in dem er auf eindringliche Weise seinen elfmonatigen Überlebenskampf in Auschwitz beschreibt.
Am 11. April 1987 starb Levi. Genauer gesagt, er stürzte in den Treppenschacht seines Hauses und erlag wenig später seinen Verletzungen. Da er zuletzt unter Depressionen litt, ist in der Literatur zumeist von Suizid die Rede. Allerdings hinterließ Levi keinen Abschiedsbrief, und aus Dokumenten geht hervor, dass er durchaus noch konkrete Zukunftspläne hatte. Für die 2012 verstorbene Medizin-Nobelpreisträgerin Rita Levi-Montalcini bestand daher nie ein Zweifel: Der Tod ihres Freundes Primo Levi war ein Unfall.
Primo Levi: Das periodische System. dtv Verlagsgesellschaft. 266 S., 12,90 €
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