Im Augen-Blick die Dauer

Von den Ruhrfestspielen nach Düsseldorf: »Der Sandmann« von Robert Wilson

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Eigensinn beweist seine Unverwechselbarkeit, indem er sich wiederholt. Er kommt vorwärts, indem er sich immer wieder nur um einen einzigen Punkt herum dreht. Der Eigensinn trägt Uniform, aber er schließt sich keiner Armee an. Robert Wilson zum Beispiel ist und bleibt Wilson. Er zaubert mit Effekten, die sich - wie von ihm gewohnt - in meisterlichem Gleichmut kopieren: in den kaltblau gleißend aufblinkenden Lichtbalken; in den leeren Rahmungen, in den Schwarz-Weiß-Kostümen, in den Scherenschnitt-Mengen, in all den klackenden, ploppenden akustischen Signalen, um körperliche, seelische Bewegungen oder Erstarrungen zu beschreiben. Zeit unter der Lupe. Alles, was da geschieht und stockt, ein Jedes, das da tönt und leuchtet, ist ausgesucht fremd und künstlich und vor allem sehr, sehr schön. Das ist jetzt einmal mehr als Faszinosum zu erleben: Schönheit in Schaurigkeit.

Für die Ruhrfestspiele inszenierte Wilson E. T. A. Hoffmanns Romantik-Thriller »Der Sandmann«. Eine Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Festspiele sind unzweifelhaft ein Präsenz-Parcours; wer also groben sozialen Einteilungsrastern huldigt und etwa meint, der bloße instinktive Unmut über das teure Salzburg oder das teure Bayreuth sei schon Gegenkultur, der dürfte auch in Recklinghausen seine antibürgerlichen Reflexe bestätigt finden. Also seine triste Denkungsart. Und dann noch Robert Wilsons kostspielige Delikatessen!? Die Delikatesse ist in diesem Falle Dämonie, aber mit Grazie; Schwarzmalerei, doch mit Liebesmut.

Der Vollmond strahlt. Lichtpfeile schießen. Das Elementare lodert gräuelmärchentreu. Flammen schießen hoch. Ein Trompeter bläst Trompete - ohne dass ein Ton sich löst. Ein Mensch schreckt aus seinem Bett, von einer Mohnpflanze bedroht. Die Frage dieses Abends: Wie viel Lüge braucht der Mensch, um beruhigt einzuschlafen? Und wie viel pädagogische Drohung, um endlich Ruhe zu geben? Bei E. T. A. Hoffmann ist »Der Sandmann« den Kindern ein Segensbringer, aber den Bösen pickt er angeblich die Augen aus. Den jungen Nathanael wird diese finstere Erziehungsmär unabwendbar zu einem Manne formen, der an seinen Albträumen zugrunde geht. Den Advokaten Coppelius, einen Alchemisten-Kumpan seines bei einem chemischen Experiment verunglückten Vaters, hält er für den Sandmann - Andreas Grothgar gibt ihn als furchterregend bleckenden Zombie vom Schlage eines Bösewichts der Batman-Saga.

Wieder weißgesichtig geschminkte Schauspieler mit Mündern, aufgerissen zu Munchs Schrei, dazu seltsamste Arm-, Bein-, Hand- und Fingerzeichen. Da sitzt jeder Schein-Werfer, da stimmt jeder Schatten. Theater, das vordergründig nicht interpretieren will, sondern vollauf beschäftigt ist, die Elemente zu trennen, als trennte es mit Glacéhandschuhen den Müll einer psychologischen Verklumpung. Bild, Musik, Gestus und Sprache stehen nebeneinander, in Bewegung kommt alles durch Pointensuche in einer unentwegten Comic-Werkstatt. Eine Zeremonie des Gespreizten also - um den Preis einer konsequenten (aber hier: betörenden!) Blutlosigkeit. Jeder Stücktext, den Wilson spielen lässt, muss sich so gegen ein ausgezirkelt buchstabierendes optisches Esperanto wehren; der Regisseur ist trotz aller Musik und Geräuschdröhnung dem Stummfilm näher als dem Sprachtheater.

Die Schreie sind spitz. Die Lippen blutrot. Orangen türmt sich ein Haarschopf. Ein schmaler Blaustreifen ist das Meer. Dunst frisst einen Horizont. Die Bühne plötzlich eine Projektion zahlloser Augen. Es rauscht - der Ozean oder das Blut in den Adern? Es grünt so grün - eine Parkanlage wie die Einladung in ein Labyrinth. Menschen? Tote stehen aus ihren Gräbern auf. Sie spielen Menschen, also Gespenster. Das Böse? Ein teuflischer Einbruch von Attraktivität. Denn: Bricht Gewalt ein, blühen auch Eros und natürliche Eleganz - so wahrhaftig ist Wilson. In blütenweiße Maskengesichter passt ein immenses Schmutzwissen über die Welt.

Frauen trippeln in Spitzenschuhen: der Schmerz der Etikette. Wenn sich die Welt im bibbernden Bewusstsein übersteigert, dann kreisen, gleißen Spiegel. Ein Mensch wiegt in seiner Hand zwei Augäpfel: Was ist das, der Wahrheit ins Auge schauen? In Augen-Blicken das Dauernde: Wir kommen blind zur Welt - aber dies vollzieht sich nicht bei der Geburt, sondern danach, und wir nennen es Leben. Jagender Rhythmus treibt die Dinge voran. Das Teufelstempo. Erstaunlich für Wilson, wie den Schauspielern im Kunst-Korsett doch unerwartet Freiheit der Nuance zuwächst. Als seien da Schlupflöcher ins Lebendige.

Christian Friedel, der im Kino Georg Elser und einer der Protagonisten in Michael Hanekes »Das weiße Band« war, der auf der Bühne (zumeist in Dresden) Wilhelm Meister, Peer Gynt, Don Carlos, Ödipus, Mackie Messer, Hamlet, Ui war und die Band »Woods of Birnham« gründete - er spielt den total zerängstigten, überstimulierten jungen Nathanael. Die roten Haare stehen ihm zu Berge, all seine Sinne saugen den Wahn wie eine Droge auf, die ihn zum Beben, schließlich zu Tode bringt.

Nathanael verliebt sich in den Trug, in die mechanische Puppe Olimpia, der ein Schlüssel im Rücken steckt. Yi-An Chen gibt mit spieluhrenfigürlicher Lieblichkeit, ab und zu ein »Ach!« tirillierend, jenen Reiz der Perfektion, der den Keim tödlicher Langeweile in sich trägt. Die Britin Anna Calvi schrieb der Inszenierung einen eindringlich knallenden, kratzenden, kurvenden Pop-Sound; dem Publikum werden Ohrstöpsel angeboten - wer’s indes aushalten will, erlebt Friedels Stimmkraft, weibliche Koloraturen und eine beachtliche orchestrale Geisterfahrt, die raunt und röhrt, die schmatzt und schmiert und süßes Gift spritzt. Vivaldi trifft Mercury, so wie auf der Bühne - vom szenischen Gefühl her - Zirkuskuppel auf Underground trifft.

Wilsons Theater ist pure Außenhaut. Darauf Tätowierungen, porentief. Sie erheben das prägnant gesetzte Bildzeichen in den Stand eines glorreichen Verräters: Es entlarvt, dass hinter unserer wieseligen Behauptung von Individualität eine fatale Motorik der Fremdsteuerung steht. Wir entkommen unseren Ängsten nicht, und nichts lässt sich wirklich verdrängen. Diese hermetische Kunst der immerfort einfrierbaren Lebend-Animationen behauptet unbeirrbar: Im Alltagskonsum findet niemand seinen eigenen Weg, Realismus ist beileibe nicht alles, und das Kunstwerk, das nur politische Aktivisten des Gegenwärtigen zufriedenstellt, ist nichtssagend.

Man kann zwar auch beim »Sandmann« mit jeder Szene beweisen, dass Wilson am Menschen zweifelt, verzweifelt, und doch stimmt bei dieser bestechenden (auch bestechend witzigen!) Aufführung ebenso das Gegenteil: Die Körpersprache entstammt der naiven Phase des Menschseins - und nimmt man Wilsons hochstilisierte, teure, aseptische Stilkonstrukte als pure Kindlichkeit, so liegt in der grellen Überzeichnung doch ein überzeugender Triumph, der aus den Vertilgungsphantasien noch der schrundigsten Märchen einen Trost zieht: Was erzählt werden kann, ist gewonnenes Leben.

Nächste Vorstellungen: 20., 21., 28. Mai am Düsseldorfer Schauspielhaus

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