Unerbittlich in die Katastrophe

Deutsches Theater Berlin: Stephan Kimmig inszenierte »Phädra« von Jean Racine mit Corinna Harfouch in der Titelrolle

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Warum nimmt sich Phädra am Ende das Leben? Ist sie schuldig geworden, weil sie ihren Schwiegersohn liebt, was als Inzest gilt? Ist sie nur halb schuldig, weil willenlose Leidenschaft sie überfiel und Liebe zu Hippolyt daraus entspross, Liebe, mit ihrem Selbst tragisch verschwistert, die unverdrängbar an ihrer Seele frisst, die sie verzweifeln lässt, weil sie unerwidert bleibt? Phädra ruft gar die Götter an, sie mögen ihr verzeihen und gleichwohl ihr gesonnen sein, wo doch Liebe etwas zutiefst Menschliches ist. Ist sie darum unschuldig? Um diesen unüberwindlichen Zwiespalt rankt diese Tragödie des Jean Baptist Racine. Werk höchsten Anspruchs.

Wie gute Musik und Malerei gibt es tatsächlich noch gutes Theater, eines, das jenseits von rockigen, digitalen, hypertrophen Konzeptionen die Konflikte adressiert; Theater, nackt auf die Bühne gestellt, das artikuliert statt sinnlos zu brüllen, das der menschlichen Sprache Gewicht verleiht statt sie zu vermüllen, zu vernichten. Die »Phädra«-Tragödie, die jetzt am Deutschen Theater Berlin (DT) Premiere hatte, ist ein Beispiel hierfür. Regisseur Stephan Kimmig hat das Stück mit seinem siebenköpfigen Ensemble, voran Corinna Harfouch in der Titelrolle, kristallklar auf die Bühne gebracht, sprachlich nicht minder wie gestisch und bildnerisch.

Da geschieht nichts Überflüssiges. Friedrich Schillers Übersetzungstext verlebendigt sich, so wie er ist. Nichts Fremdes verschandelt ihn. An Ideen, darstellerisch genau und klar zu sein, mangelt es nicht. Jede einzelne Spielerin, jeder einzelne Spieler hat dem Ergebnis nach hart an dem schwierigen Material gearbeitet. Welcher Maler kann heute noch Pferde malen, welcher Theatermann noch mit Hochsprachlichkeit umgehen? Diese »Phädra« des Jean Baptist Racine (1639 - 1699), mit Thomas Corneille (1625 - 1709) seinerzeit der Mann des französischen Dramas, ist barockes Theater der besten Sorte, am DT umgesetzt ohne jede Attitüde, ohne billige Fratzenschneiderei, ohne fanatisches Aktualisieren.

Der Text ist von wahrhaft hoher Dichtung, ein Meisterwerk der Epoche. Vielfach ist er gedeutet worden, etwa von Roland Barthes und Jean Starobinski. Ersterer meint, »Phädra« sei eine Tragödie des Sprechens, letzterer betrachtet sie als eine des Sehens. Beides stimmt nur halb. Denn die Verse klingen zu einem Gutteil, als wären sie Musik. Also auch »Drama des Hörens«. Es zu verfolgen, müssen Augen und Ohren sehr aufmerksam sein. Dass Opern auf Racines Text komponiert wurden, ist verständlich, aber seine Verse zu vertonen auch problematisch, denn schnell verfällt unterlegte Musik dem Klang der Dichtung und verdoppelt nur, statt selbstständige Schichten zu bilden. Kimmig verzichtet nicht von ungefähr auf instrumentale Musik.

Bei Racine ist sie noch da, die vergessene aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Alles läuft folgerichtig ohne zeitliche Sprünge ab in den zwei Stunden der Aufführung. Keine der sieben Figuren ist negativ, keine Heldin, kein Held ist darunter. Alles Handeln entspringt strengen Gesetzen des alten Griechendramas. Die Dinge treten ein mit Notwendigkeit. Unerbittlich rollt die Handlung ab und endet katastrophisch.

Tod der Phädra, Tod auf kalkweißer, an den Rändern gerundeter Bühne, auf der die Balance zu halten ist, ohne jegliches Interieur im grellbunten barocken Kostüm (Bühne: Katja Haß, Kostüme: Johanna Pfau). Bedeutend die Harfouch. Sie beherrscht sitzend, schreitend, balancierend, fallend ihre so tragischen wie mit Zynismen besetzten Monologe und verliert dabei die Herrschaft über sich. Behänd im Abtausch mit Oenone, ihrer Vertrauten, von Kathleen Morgeneyer so kraftvoll wie zärtlich gegeben; eine Figur, die ihrer Herrin unentwegt zuredet, abzulassen von dem Alb der Liebe. Oenone zur Seite die Panope. Mascha Schneider gibt sie als rhythmisierende Mahnerin. Phädra ist das Zentrum. Von ihren internen Leiden und Launen leitet sich alles ab. Konfliktbesetzte Seelenlagen führen zu ihr hin und von ihr weg. Alexander Khuon als Hippolyt muss sich dem Begehren seiner Mutter, die nicht die leibliche ist, dauernd erwehren.

Komisch Bernd Stempels König Theseus von Athen, Gemahl der Phädra. Der Totgeglaubte - Phädra und weitere wünschten sich ihn tot - kehrt unvermutet zurück von seiner Reise. Phädra gibt ihrer Enttäuschung darüber so kaltschnäuzig wie komisch Ausdruck. Linn Reusses Arica aus dem Geschlecht der Pallantiden ist an Agilität kaum zu übertreffen, sie hängt an Hippolyt, sie liebt ihn, turtelt, scherzt, spielt mit ihm, während ihr der Schatten Phädras im Nacken sitzt. Ist Arica zuletzt die Siegerin? Niemand siegt. Schaudern am Schluss. Nichts ist gelöst. Die Katastrophe schreit Theramen (Jeremy Mockridge), Vertrauter des Hippolyt, machtvoll heraus. Derlei fährt unter die Haut. Diese »Phädra« zu erleben, ist ein Hochgenuss. Hoch die sprachliche Brillanz, hoch die darstellerische Qualität!

Nächste Vorstellungen: 6., 10., 27. Juni

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