Eine moderne Kommunikationsstrategie?
Carola Dietze spürte dem Phänomen des Terrorismus nach - ohne befriedigendes Ergebnis
Der französische Philosoph Pierre Bourdieu hat einst die Figur des Intellektuellen als »Spezialist für den Umgang mit symbolischen Gütern« auf dem sich im 19. Jahrhundert neu herausbildenden Terrain des Öffentlichen bezeichnet. Folgt man der Gießener Historikerin Carola Dietze, dann wären jene unter ihnen als Terroristen zu bezeichnen, die sich auf den Umgang mit einem medienwirksamen Gewalteinsatz spezialisieren. Denn beim Terrorismus handele es sich in erster Linie um eine moderne »Kommunikationsstrategie«, die »auf die mediale Verstärkung einer symbolischen Gewalttat angewiesen ist«, so Dietze in ihrer überarbeiteten Habilitationsschrift über die»Erfindung des Terrorismus«.
So definiert beginnt die Spurensuche nach den Ursprüngen des aktuell so virulenten Begriffs natürlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich durch die Entwicklung von Massenpresse, Telegrafie, Dampfschifffahrt und Eisenbahn eine internationale Öffentlichkeit herzustellen begann. Im Zentrum stehen die überaus lesenswerten Fallstudien zu den beiden »Pionieren« dieser Strategie. Es sind zunächst Geschichten des Scheiterns. Denn sowohl das Attentat des Italieners Felice Orsini auf den französischen Kaiser Napoleon III. als auch der Überfall auf ein Waffenlager des US-Heeres in Harpers Ferry durch den calvinistischen radikalen Abolitionisten John Brown und einige Getreue waren nicht nur erfolglos, sondern führten auch nicht zu den beabsichtigten Erhebungen breiter Bevölkerungsteile für die Einheit Italiens bzw. gegen die Sklaverei in den USA. Dennoch fanden sie massenhafte Nachahmer. Dafür identifiziert Dietze neben der medialen Präsenz als zwei zentrale Ursachen des Terrorismus die Ideen der Französischen und der Amerikanischen Revolution sowie die Blockierung ihrer Ideale von Freiheit und Nation zumindest im Empfinden des Milieus, aus dem sich die gewaltbereiten »Kommunikationsstrategen« speisten.
Ob sich mit der Fokussierung der Autorin auf die »transkontinentale Kommunikations- und Mediengeschichte« aber das Dilemma um die weitgehende Undefinierbarkeit des Terrorismus lösen lässt, ist fraglich. Bereits 1977 hatte Walter Laqueur bemerkt, dass dieser Begriff in so vielen verschiedenen Bedeutungen benutzt werde, dass »er fast völlig seinen Sinn verloren hat«. Irgendwas mit Gewalt und Medien und ein bisschen »Provokation der Macht« (Peter Waldmann), gepaart mit einem Ohnmachtsgefühl - diese, zugegebenermaßen zugespitzte, Position Dietzes erklärt wenig bis nichts; vor allem nicht die Unterschiede zwischen den von Dietze unterschiedenen Phänomenen der sozialrevolutionären, nationalistischen oder rechtsextremen Terrorismen.
Unverständlich auch, warum die Autorin etwa den Anschlag des deutschen Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand auf den reaktionären Publizisten August von Kotzebue aus Protest gegen die Karlsbader Beschlüsse trotz der Ähnlichkeit zu dem Attentat Orsinis nicht berücksichtigt, jedoch den rassistischen Lincoln-Attentäter John Wilkes Booth an die Seite des abolitionistischen Guerilleros Brown stellt. Die konformistisch-antiaufklärerischen und zumeist auch von Teilen der staatlichen Eliten gedeckten sogenannten »Einzeltäter« oder auch Killertrupps à la Ku-Klux-Klan, NSU oder Al Qaida von »Sozialrebellen« (Eric Hobsbawm) wie auch linken bewaffneten Gruppen begrifflich nicht zu trennen, bleibt absurd. Waren diese doch, wie beispielsweise Volker Ulrich in seiner Biografie des »roten Bandenführers« Karl Plättner aus den 1920er Jahren in Analogie zur RAF oder den Roten Brigaden in Italien feststellte, Geschöpfe der Niederlage sozialer Emanzipationsbewegungen, mit der sie sich nicht abzufinden bereit waren.
Die Einebnung divergierender Ziele, Motive und Methoden durch die Aufrechterhaltung einer diffusen Begrifflichkeit wie »Terrorismus« mündet fast stets, gewollt oder nicht, in Apologie. In einer Untersuchung zur medialen Berichterstattung über die RAF klagte der Literaturwissenschaftler Martin Steinseifer: »Das Wort ›Terrorismus‹ wird als Stigmawort verwendet.« Und er begründete: »Diese Verwendung setzt auf Einvernehmen in der Ablehnung und mobilisiert Zustimmung zum Kampf gegen einen bedrohlichen Gegner, aber sie fördert kaum das Verstehen des sozialen Phänomens, das als ›Terrorismus‹ stigmatisiert wird.« Leider trägt auch Carola Dietze kaum dazu bei.
Carola Dietze: Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858 - 1866. Hamburger Edition. 750 S., geb., 42 €.
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