Mit / ohne Scheuklappen

Gerhard Scheumann

  • Till Sailer
  • Lesedauer: 2 Min.

Der Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk (1944 - 2016) verfasste in seinen letzten Lebensjahren eine Biografie über den Dokumentarfilmer Gerhard Scheumann (1930 - 1998), die jetzt erschienen ist. Den Titel »... es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt« hatte Scheumann selbst für seine Memoiren vorgesehen. Er sollte offenbar sein Lebensgefühl nach 1989 ausdrücken. Hörnigk schreibt, der Porträtierte sei »ein ungemein anregender, geistvoller Partner für alle« gewesen, »die seine Nähe erfahren haben«. Durch von Joachim Stoff zusammengetragenes dokumentarisches Material sowie etwa 600 Seiten Tagebuchnotizen war es ihm möglich geworden, die Biografie Scheumanns »zu einer Studie über die Geschichte der Medien- und Kulturpolitik der DDR« zu erweitern.

Das »geteilte Leben« im Untertitel meint die außerordentlich erfolgreiche Periode Scheumanns im Dokfilm-Studio H&S gemeinsam mit Walter Heynowski einerseits und andererseits die Zeit nach der Wende, als er, so der unverblümte Titel einer filmischen Abrechnung, »abgeschossen« werden sollte. Geteilt war Scheumanns Leben aber auch in Bezug auf die engste Familie, von der einige Mitglieder in den Westen gegangen waren, und auf seine Erziehung im Sinne der Nazis von 1941 bis 1945. Persönlichkeiten wie der Dokumentarfilmer Karl Gass führten ihn dann auf den Weg des »wahren Sozialismus«. Es folgte eine rasche journalistische Karriere, zunächst im Rundfunk, dann im Fernsehen. Den eigentlichen Zenit seiner Karriere erreichte Scheumann im Dokumentarfilm zusammen mit Heynowski durch spektakuläre, noch heute umstrittene Produktionen wie »Der lachende Mann« über Kongo-Müller und die Vietnam-Porträts »Piloten im Pyjama«.

Man begegnet im Buch einem Menschen, der mit sich und der DDR-Realität hart ins Gericht ging, der messerscharf erkannte, was in seinen Filmen meist ausgeblendet wurde. Umfangreiche Interviews mit Verwandten und Weggefährten vervollständigten das Bild. Matti Geschonneck, Scheumanns Stiefsohn, äußert sich sehr warmherzig. Über den IM-Vorwurf gegen seinen Ziehvater schreibt er: Andere schildern Scheumann in keiner Weise als »Mann mit Scheuklappen«. Dass er das in seiner Arbeit dennoch weitgehend geblieben ist, lässt sich nicht wegdiskutieren. In seiner Fragment gebliebenen Autobiografie wollte er diesem Zwiespalt nachspüren.

Hörnigk liefert eine Fülle von Denkansätzen über die Geschichte der DDR. Allerdings liegt für die Restauflage des Buches ein von Seiten Heynowskis veranlasster vorläufiger Auslieferungsstopp vor. Er befürchtet, durch die nachgewiesenen Arbeitskontakte des Duos mit dem MfS persönlich in Misskredit zu geraten.

Frank Hörnigk: »... es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt.« Das geteilte Leben des Gerhard Scheumann. Verlag für Berlin-Brandenburg, 264 S., geb., 20 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -