Kein Recht, sich abzuheben

An der Neuköllner Oper muss Benjamin Stein als Dramaturg vielseitig sein

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 4 Min.

Sofort Feuer gefangen. Als Benjamin Stein 1998 eine Hausführung in der Neuköllner Oper besuchte, erwachte sein Wunsch, hier zu arbeiten. Mit Peter Lunds Musical »Das Wunder von Neukölln« nach Wolfgang Böhmers Musik wurde das Musiktheater an der Karl-Marx-Straße gerade zu mehr als einem Geheimtipp. »Diese Inszenierung ließ eindeutig den hier engagiert aufgenommenen Bildungsauftrag erkennen, den eines Gegenentwurfs im Geiste des Widerspruchs. Oper ist nicht nur für die da oben.« Das war genau das, was er suchte, mit dem er sich gern identifizierte.

Mit der Theaterszene im einstigen Westberlin hatte er sich früh vertraut gemacht. Aus einer Arztfamilie stammend, war er 1984 aus Oldenburg an die Spree gekommen, um Medizin zu studieren. Angesichts von Studien an Leichen verständigte er sich mit anderen Studenten darauf, als Alternative die Anatomie am lebenden Menschen erfahrbar zu machen. Über Bewegungsstudien kam er körperlichen Ausdrucksformen nah und damit dem Theater, das er schon als Kind liebte.

Einer seiner Brüder wurde Schauspieler. Das war nicht sein Weg. Aber er fühlte sich in der Szene richtig, suchte Bühnennähe. Er fand sie mit anderen in Kreuzberg, als Ulrich Andreas Berger das Schauplatztheater in der Dieffenbachstraße eröffnete, das inzwischen Geschichte ist. Auch an der Gründung des Acud-Theaters in Mitte beteiligte er sich. Damals wurde er das erste Mal Vater, besann sich deshalb eines »anständigen« Berufs und lernte Kunsttischler. Doch das Theater zog.

Was bewegt die Leute draußen auf der Straße? Nach wie vor ist diese Frage Prämisse für die Arbeit des vierten Berliner Opernhauses mit wirklichkeitsnahem Standort. »Wir leben wie in einer Art Zentrifuge, in der an den Rand geschleudert wird, wer - aus welchen Gründen auch immer - nicht mithalten kann. Für diese Menschen wollen wir da sein«, sagt Stein und verweist bei der kulturellen Bildung nicht allein auf Kinder und Jugendliche. Auch Arme, Behinderte, Alte, Flüchtlinge gilt es mitzunehmen.

Politische und damit soziale Themen bestimmen den Spielplan. »Kultur wird von allen bezahlt. Dieses Geld ist nicht dafür da, sich abzuheben.« Der noch im größten Premierenstress immer freundliche Mann zeigt sich in solchen Fragen kompromisslos ernst. »Man muss tagtäglich aufpassen, dass einem nicht die Sicht versperrt wird.« In Neukölln lebend, droht ihm das nicht. Sätze wie »Faulheit ist keine grundsätzliche menschliche Eigenschaft, sondern ein Produkt der Entfremdung«, sind so typisch für ihn wie Bemerkungen über »imperialistische Kinkerlitzchen«. Eine der zwei Töchter studiert Psychologie in Magdeburg. Gegenwärtig arbeitet sie an einem Projekt zur Kommunikation für Mediziner mit. Lächelnd erzählt er das. Schließlich erinnert ihn das an seine Studienzeit.

Bodenhaftung charakterisiert auch die internationale Zusammenarbeit des Musiktheaters. Die künstlerische Reaktion zu Sparauflagen für Griechenland beispielsweise wurde 2012 zusammen mit griechischen Künstlern mit Verdis Musik zu »Yasou Aida« und auch in Thessaloniki aufgeführt. Das wirbelte einigen Staub auf. Auch die Produktion über Gezi-Proteste in Istanbul 2014 ließ es nicht an Schärfe fehlen.

An Steilvorlagen durch die Politik fehlt es nicht. Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen der Erde, auch die Verantwortung von Medien, spielten schon eine Rolle, schwer zu bewältigende Alltags- und Beziehungsprobleme. Alles dargebracht in hoher künstlerischer Qualität und großem Engagement der Künstler. Es stellte sich früh in der Arbeit in dem kleinen Team heraus, dass die Öffentlichkeitsarbeit durchaus einer eigenen Dramaturgie bedarf. Den Nerv für das sich je nach Inszenierung unterscheidende Publikum zu treffen, gehört zu Steins Aufgaben. Die Programmhefte, die dabei entstehen, sind beachtenswert, liefern interessante Hintergründe.

Neben der Arbeit mit Jugendlichen ergaben sich neue Aufgaben der Oper als Mitglied des Kulturnetzwerkes Neukölln bei der »Berlin Mondiale«, die seit 2014 berlinweit Partnerschaften zwischen Flüchtlingsunterkünften und Kulturorten aufbaut und dafür mit dem Rat der Künste kooperiert. Enthusiastisch erzählt Benjamin Stein davon. Von dem neu eröffneten »Café Mondiale« in der Richardstraße 99 und dem Plan, mit Geflüchteten unter anderem in der nahe gelegenen Malteser-Unterkunft künstlerisch etwas auf die Beine zu stellen. Außerdem von der konzeptionellen Mitarbeit beim Filmprojekt »Berolina-Hotel« mit Ghafar Faisyar, einem afghanischen Filmregisseur. Es handelt vom Leben im Flüchtlingsheim.

Ist mit all dem die Frage, was ein Dramaturg eigentlich macht, beantwortet? Durchaus. Im Theater wird er überall gebraucht. Er funktioniert, organisiert, motiviert; er kümmert sich um alles Mögliche. Unentbehrlich, ist er zumeist nach außen unsichtbar. Benjamin Steins Engagement für kulturelle Bildung macht das alles etwas anders. Aber das ist die Neuköllner Oper sowieso.

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