Ein Leuchten und Lachen
Thomas Kuczynski hat jahrelang an einer neuen Textausgabe des ersten »Kapital«-Bandes gearbeitet. Nun ist das Werk fertig. Ein Besuch
»Noch mal lesen - oder lieber ab ins Altpapier?«, hieß es unlängst in einem dieser Erinnerungsbeiträge zu 150 Jahre »Das Kapital«. Was für eine Frage. Thomas Kuczynski würde sie sich nicht einmal stellen. Er hat »Das Kapital« stattdessen noch einmal neu geschrieben. Besser gesagt: neu zusammengesetzt.
Es ist ein Lebensprojekt und eine Geschichte, die nicht nur vom »Kapital« erzählt, sondern auch von großer Leidenschaft. Die Geschichte eines Textes, der nie fertig werden wollte. Sie erzählt zudem von einem späten Sieg über den Stalinismus. Und am Rande ist sie auch noch eine Geschichte von Übervätern.
Kuczynski sitzt in seiner Wohnung in Pankow. Der Ökonom und Wirtschaftshistoriker ist jetzt 73 Jahre alt und muss bald los, das Taxi zum Flughafen ist bestellt. Es geht nach Stuttgart, wo sein Freund Theodor Bergmann begraben wird, auch er ein großer, linker Wissenschaftler. Einer, der sich mit Marx gut auskannte.
So wie Kuczynski. Es gibt nicht so viele Leute, die sich derart sicher im Marxschen Werk bewegen wie er. Wer mit ihm spricht, kann viel über Varianten der »Kritik der Politischen Ökonomie« erfahren, über Unterschiede der Auflagen, über Anmerkungen, die Marx an einem Buch machte, für das er viel länger brauchte als gedacht und das er nie als wirklich fertig betrachtete.
Weil Marx auch den Kapitalismus nicht als »schon fertig« ansah. Hier neue Notizen, dort Anweisungen für spätere Übersetzungen. Kuczynski kann Vorträge darüber halten, was es auf sich hat mit der ab 1872 erscheinenden französischen Ausgabe, späteren deutschen Fassungen. Es ist eine Begeisterung, die man ihm ansieht. Thomas Kuczynski hat so etwas wie ein Kapital-Gesicht: ein Leuchten, wenn es um Texterweiterungen geht; ein Lachen, wenn die Rede auf Umformulierungen kommt.
»Wie geht der Text los?«, fragt Kuczynski, der es besser weiß als die meisten. »Mit dem Reichtum moderner Gesellschaften und dass dieser wie eine ungeheure Warenansammlung erscheint?« Seine prompte Korrektur beginnt mit einem fröhlichen Ja: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹.« Kuczynski zitiert die ersten 14 Wörter aus dem »Kapital«, um zu erzählen, dass Marx diesen Satz später korrigierte - statt des schwerfälligen »in welchen« ein einfaches »wo«. Im Band 23 der maßgeblichen Marx-Engels-Werke steht auf Seite 49 immer noch »in welchen«. Kuczynski lacht, nicht weil das so schlimm ist. Sein Lachen ist das Geräusch der Freude, die der Arbeit an diesem ewig unfertigen Buch entspringt. Für Marxisten ist es »das Buch«, und man muss das im Hinterkopf haben auch bei Leuten wie Thomas Kuczynski, der sich wie Marx nie als Marxist bezeichnen würde.
»Selbst der erste Band«, sagt Kuczynski, liegt nicht als »Ausgabe letzter Hand« vor, also als eine, »die dem letzten Willen des Verfassers entsprochen hätte«. Was der studierte Statistiker sich vorgenommen hat, ist nichts Geringeres als eine Ausgabe von »Das Kapital«, die versucht, »den Intentionen des Verfassers möglichst nahe zu kommen«. Viel höher kann ein Ökonom die Messlatte nicht legen. Nun ist das Buch fertig, bald wird es erscheinen: »Wie ich das nenne, eine neue Textausgabe.«
Man muss dazu wissen, dass Marx kurz nach dem Tod seiner Frau 1881 an seinen russischen Freund Nikolai F. Danielson in St. Petersburg schrieb, er werde später »vielleicht« das Buch »umarbeiten«. Dazu kam er nicht mehr. Man versteht Kuczynskis Idee besser, wenn man alle Verästelungen der Editionsgeschichte von »Das Kapital« kennt. Eine englische Übersetzung spielt eine Rolle, ebenso, wie Engels es mit den Korrekturwünschen von Marx hielt. Und so fort.
Dem war die französische Ausgabe sehr wichtig. Was immer deren »literarische Schwächen« sein mögen, schrieb er, sie »besitzt einen vom Original unabhängigen wissenschaftlichen Wert«. Engels aber habe dies in Teilen entweder übergangen, nicht gewusst oder anders gesehen. Darüber wird seit langem gestritten.
Es sind nach dem Tod von Marx und Engels weitere, neue Ausgaben vom »Kapital« erschienen. Die Volksausgabe von 1914, die Karl Kautsky besorgte, oder die von Karl Korsch aus dem Jahr 1932. Natürlich muss die MEW erwähnt werden, sozusagen der Goldstandard des deutschsprachigen Marx für die Masse. Da ist die MEGA, die Platinvariante, die noch die kleinste Notiz aus dem Nachlass für die Forschung aufarbeitet.
Nun also eine Kuczynski-Ausgabe. Er hat sich die Arbeit gemacht, die anderen ersparen bleiben soll - deshalb also eine Fassung, die alle Anmerkungen, Umformulierungen, Ergänzungen aufnimmt. Die deren Bedeutung auch für normale Leser nachvollziehbar macht. Eine Ausgabe, die das, was Kuczynski die Vorzüge der besseren Darstellung in der französischen Ausgabe nennt, auf Deutsch in den Gesamttext integriert. Eine Ausgabe, die den kompletten Forschungsstand berücksichtigt.
Und dann war da noch eine Bedingung von Kuczynski: Der erste Band dürfe nicht mehr als 20 Euro kosten, damit »diese Ausgabe von Studierenden gelesen wird, von Gewerkschaftsmitgliedern, von Betriebsräten«. Also erscheint der erste Band von »Das Kapital« nun als 800-Seiten-Buch mit beigelegtem Speicherstick, auf dem der historisch-kritische Apparat zu finden ist.
Wann er mit dem Projekt angefangen hat? »Das muss so um 1997 herum gewesen sein«, sagt Kuczynski. Es ist das Jahr, in dem sein Vater starb, der legendäre Jürgen, der große Historiker und Ökonom. 40 Bände »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus«. Zehn Bände »Studien zur Geschichte der Gesellschaftswissenschaften«. Tausende Veröffentlichungen. Einer der produktivsten und hellsten Köpfe der DDR, dreimal für den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften nominiert. Man hat in der DDR ein Institut auf ihn zugeschnitten, eines für Wirtschaftsgeschichte.
Sohn Thomas war später dessen letzter Direktor. Ein Wissenschaftler, der selbst Schlagzeilen machte, etwa mit einer Studie über Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im »Dritten Reich«. Oder mit einem Auftritt in einem Theaterstück über »Das Kapital«. Aber eine neue Textausgabe »des Buches« der ökonomischen Kritik am Kapitalismus ist natürlich noch etwas anderes. Man kann es, bei dem Vater, auch als ein Zeichen der Selbstbehauptung verstehen.
Von dem Projekt war immer mal wieder die Rede. Kollegen von Thomas Kuczynski raunten über ein Manuskript. Sie sprachen in einer Mischung aus Erwartung und der Skepsis, die in der kleinen, aber feinen Szene der Marxauskenner auch etwas mit Konkurrenz zu tun haben mag. So eine neue Textausgabe schließt natürlich an viele Arbeiten anderer an.
Das Buch, das der linke Hamburger Verlag VSA nun herausbringt, ist aber noch etwas anderes - ein später Sieg über den Stalinismus. Thomas Kuczynski verwirklicht, was Mitarbeiter im Moskauer Marx-Engels-Institut nicht zu Ende bringen konnten. Nicht durften. Anfang der 1930er Jahre hatten die Ökonomen Valerie Kropp und Kurt Nixdorf die französische Übersetzung und die zweite deutsche Ausgabe von »Das Kapital« miteinander verglichen und empfohlen, mehr von der französischen zu übernehmen. Es ging darum, wie weit man über Engels Bearbeitungen hinausgehen wolle. Der damalige Institutsdirektor David B. Rjazanov kam nicht mehr dazu, eine Entscheidung zu treffen - Stalin ließ ihn umbringen, auch Nixdorf wurde erschossen, das Schicksal von Kropp ist unbekannt.
Für Thomas Kuczynski war das »die entscheidende Anregung«. Ein Verlag fand sich dann auch. Für VSA war die Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie immer ein Hauptanliegen, sagt Gerd Siebecke. Eine Rekonstruktion, die zur Erklärung des gegenwärtigen Kapitalismus beitragen soll. Marx kommt deshalb im aktuellen Verlagsprogramm nicht eben selten vor, kein Wunder angesichts des Doppeljubiläums 150 Jahre »Das Kapital« und des bevorstehenden 200. Geburtstages von Marx.
Und nicht zuletzt hat Thomas Kuczynskis neue Textausgabe auch etwas mit der Verlagstradition zu tun - als eines der ersten Bücher nach der Gründung 1972 veröffentlichten die Hamburger ein bis dahin schwer zugängliches Manuskript von Marx über Friedrich Lists Buch »Das nationale System der politischen Ökonomie«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.