Gute Weiße, böse Rote?

Die Oktoberrevolution und die Russlanddeutschen - Notizen von einer kontroversen Tagung

Beim Wort »Landsmannschaft« kräuseln sich einem die Fingernägel. Gehören die noch in unsere Zeit? Und sind sie nicht eigentlich schon im vergangenen Jahrhundert obsolet geworden? Ein antimodernes, verstaubtes, verknöchertes Phänomen, martialisches Relikt aus Zeiten nationaler Eigenbrötelei und Eigensinns.

Wie auch immer, die Deutsche Gesellschaft und die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland luden ins Berliner Domizil der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, um über die »Oktoberrevolution« und die Folgen für die Russlanddeutschen zu debattieren. Bemerkenswert der in einer offiziellen Einladung gewählte Begriff für das, was nach altem russischen Kalender am 24./25. Oktober und nach neuem am 6./7. November 1917 in Petrograd begann. Zudem die zweitägige Konferenz von einer christdemokratischen Kulturstaatsministerin gefördert wurde. Im Grußwort von Monika Grütters, das zum Auftakt brav verlesen wurde, war dann allerdings von »der sogenannten Oktoberrevolution« die Rede, die »nicht viel Gutes« brachte, sondern »weitgehend Enttäuschungen, Unrecht und Leid«. Und nach einem Loblied auf die »erfolgreiche Integration« der Deutschen aus Russland, die sich »kulturell und gesellschaftlich wie auch ökonomisch als enorme Bereicherung erwiesen hat«, konstatierte die Politikerin: »Aber leider sehen wir auch das Gegenteil: Nationalismus, Drohgebärden, offene Aggression - bin hin zur Annexion.« Auch ohne Nennung von Name und Hausnummer war allen Anwesenden klar, wen Frau Grütters meinte. War es eine Vorahnung solcher Verlautbarungen, die den russischen Botschafter, Wladimir Grinin, abhielt, die Anfrage zur Teilnahme nicht positiv zu beantworten? Vielleicht hatte er aber auch schlicht Wichtigeres zu tun.

In den Diskussionsrunden ging es dann etwas differenzierter zu, nicht ohne heftige Kontroversen. Vor allem Viktor Dönninghaus schien ziemlich genervt von den Ausführungen seiner Gesprächspartnerin auf dem Podium. Katharina Neufeld, die 1997 nach Deutschland übersiedelte und in Detmold in Privatinitiative ein Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte gegründet hat, malte ein durchweg düsteres Bild über das Leben der deutschen Minderheit in Sowjetrussland und der UdSSR. »Ich habe keine Lust, mich mit Ihnen hier zu duellieren«, stöhnte Dönninghaus, der 1993 an der Universität in Dnepropetrovsk/Ukraine über Nationalitätenpolitik auf der Krim 1921 bis 1925 promovierte und heute am am Nordost-Institut in Lüneburg arbeitet: »Lesen Sie mein Buch!« Der Geschichtsprofessor beharrte darauf, dass die Bolschewiki den Russlanddeutschen auch Verbesserungen im Lebensalltag brachten, weshalb viele sich in den Dienst der Sowjetmacht stellten und beispielsweise in der Roten Armee gegen Weißgardisten und westliche Interventen kämpften. »Böse Rote und gute Weiße funktioniert nicht!« Detlef Brandes, Emeritus der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, verwies darauf, dass auch die Russlanddeutschen keine homogene Gruppe, sondern eine Klassengesellschaft waren.

Der Schriftsteller György Dalos, versuchte zwischen den Streithähnen zu vermitteln, nicht immer gelang es ihm. In seinem Impulsvortrag nannte der gebürtige Ungar, Autor einer »Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart« (C.H. Beck, 2014), die Oktoberrevolution, »die kein Putsch war«, eine »parasitäre Revolution« genannt, da sie die uneingelösten Versprechen der Februarrevolution, Frieden, Land und Selbstbestimmung der Nationen, aufgriff. Sie habe auch für breite Schichten der Russlanddeutschen soziale Aufstiegschancen geboten und der Ethnie freie Sprachpflege, eigene Zeitungen, Institutionen und sogar eine eigene Republik »geschenkt«, in der u. a. Ernst Reuter, Volkskommissar war. Für Neufeld war die Wolgarepublik jedoch »weder ein Geschenk noch ein Privileg«, sondern scheinheilige Propaganda.

Tatsächlich glich das Leben der Russlanddeutschen einer Achterbahn, auf euphorische Höhenflüge folgten furchtbare Abstürze. Als angeblich »Fünfte Kolonne« Deutschlands wurde ihnen im Ersten Weltkrieg und im »Großen Vaterländischen Krieg« misstraut - von Hartmut Koschyk, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, als »Germanophobie der Kriegsjahre«, diagnostiziert. Das nach der Abdankung des Zaren verabschiedete Gesetz der Provisorischen Regierung vom 3. April 1917 über die Gleichheit aller Staatsbürger verhieß den Russlanddeutschen Befreiung, die sie jedoch erst mit Lenins Nationalitätenpolitik erfuhren. Es folgte eine Phase kulturellen Aufschwungs und Aufblühens. Vermögende Russlanddeutsche indes litten unter der Abschaffung des Privateigentums und vor allem der Kampagne gegen das Kulakentum. Der tiefste und tragischste Einschnitt erfolgte in den Jahren des »Großen Terrors« mit dem berüchtigten NKWD-Befehl vom 25. Juli 1937, dessen Opfer 42 000 Deutsche wurden. Ebenso tragisch der Deportationsbefehl vom 28. August 1941 nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Die Hungersnot von 1921/22 wiederum traf nicht nur die Russlanddeutschen, wie Dönninghaus seine Kontrahentin Neufeld korrigierte, wobei er zugleich auf ähnliche Katastrophen im Zarenreich verwies. An die Spendenaktion der Internationen Arbeiterhilfe (IAH), koordiniert von Willi Münzenberg und Clara Zetkin, erinnerte niemand. Auch der Rapallo-Vertrag von 1922 fiel unter den (Podiums)Tisch.

Heute leben in Russland nur noch 400 000 Deutsche, dafür in der Bundesrepublik 1,8 Millionen Deutsche aus Russland, vor allem in den 1990er Jahren eingewandert. Dass es auch eine - geringere - russlanddeutsche Einwanderung in die DDR gab, wurde vom Publikum ergänzt. Mehrfach war, so von Walter Gaucks, Vorsitzender der Jugendorganisation der Landsmannschaft, zu hören, dass die Russlanddeutschen eine wichtige Brückenfunktion zwischen den Völkern einnehmen könnten.

Apropos: Die russische Sprache kennt die herrlichen Worte »Rjuksak«, »Kartofel« und »Wunderkind«.

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