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Ernestos kleiner Bruder
Juan Martín Guevara über Che, der vor 50 Jahren in Bolivien ermordet wurde.
Er wirkt bescheiden, viel zu bescheiden. Hat er doch selbst ein aufrechtes, aufregendes, abenteuerliches Leben geführt. Er ringt mit den Worten, den gesprochenen wie den geschriebenen - Ernesto Che Guevaras kleiner Bruder: Juan Martín Guevara. In Berlin stellt er seine Erinnerungen an den zu einer Pop-Ikone gewordenen Blutsverwandten vor. Er gibt seiner Betrübnis Ausdruck, dass dessen Konterfei zwar von der Bekleidungsindustrie millionenfach auf T-Shirts, Mützen und Taschen gedruckt wird, der Mensch Che jedoch seines revolutionären Impetus’ entkleidet ist. Juan Martíns Mimik ist ernst, etwas wehmütig, mitunter glaubt man einen Anflug von Trauer in seinen Augen zu erblicken. Vor allem aber forscht man in seinem Gesicht nach Ähnlichkeiten mit dem am 9. Oktober 1967 im bolivianischen Dschungel, in der Dorfschule von La Higuera, ermordeten Revolutionär, Mitstreiter und Freund von Fidel Castro. »Ich habe mir zum Ziel gesetzt, diesen Mythos zu zerstören und meinem Bruder wieder ein menschliches Antlitz zu geben«, erklärt Juan Martín Guevara.
1943 in Buenos Aires geboren, hat er 27 Jahre gewartet, ehe er den Ort aufsuchte, an dem sein Bruder starb. Er fühlte sich lange Zeit seelisch nicht gewappnet. Boliviens Militärs riegelten sodann den Tatort ab, um zu verhindern, dass er zu einer Wallfahrtsstätte des von ihnen geknechteten, unterdrückten Volkes wird. Und schließlich saß Juan Martin fast neun Jahre selbst in den Kerkern der argentinischen Junta.
Als die Nachricht von Ches Tod um die Welt ging, wollte die Familie diese zunächst nicht glauben. Zu oft schon war der Sohn und Bruder von seinen Gegnern für tot erklärt worden, so dass die Todesmeldungen »immer zweifelhafter, immer unglaubwürdiger« wurden, wie Juan Martín erzählt. Diesmal aber sollte die Nachricht traurige Gewissheit werden. Der Vater schickte Roberto, den zweitältesten Sohn, nach La Higuera, um die Leiche seines Erstgeborenen zu identifizieren. »Er kehrte tief bestürzt und verwirrt zurück«, schreibt Juan Martín. Denn als Roberto am Ort der grausigen Untat eintraf, waren die sterblichen Überreste von Che verschwunden. Die Wahrheit über dieses Vertuschungsmanöver der bolivianischen Militärs sollte erst zwanzig Jahre später ans Licht kommen.
Der Vater und die Schwestern Celia und Ana María fanden nie den Mut zu einer Reise nach La Higuera, so Juan Martín. Die Mutter, Celia de la Serna y Llosa, war zwei Jahre zuvor an Krebs gestorben: »Hätte sie nicht schon im Grabe gelegen, Ernestos Ermordung hätte sie mit Sicherheit dorthin gebracht. Sie hatte ihn geradezu vergöttert.« Auch Juan Martín vergötterte und vergöttert Ernesto. Verständlich. Er hat stets zu dem 15 Jahre älteren Bruder aufgeschaut, den er im Rückblick als geistreich und gescheit, auch als Trotzkopf, Spötter und Schalk beschreibt. Er verfolgte dessen Kampf aus der Ferne. So weit möglich. »Nachrichten von Ernesto haben Seltenheitswert. Wir wissen, dass er irgendwo auf Kuba kämpft, das Revolutionsheer entscheidende Schlachten gewonnen hat ... Wir leben 6500 Kilometer von der Insel entfernt, also so weit, dass es sich wie Lichtjahre anfühlt.«
Juan war Fünf, als der Medizinstudent Ernesto eine ihn beengende Welt voller Neugier und Lebenslust verlässt: »Ich bewundere meine Bruder, den großen Ausreißer, der sich im Alter von einundzwanzig Jahren allein und ohne einen Cent am Lenker eines motorisierten Fahrrads auf eine 4500 Kilometer lange Fahrt macht, der ein Jahr später mit seinem Kumpel Alberto ›Mial‹ Granado zu einer monatelangen Motorradtour aufbricht und sich anschließend auf eine längere Expedition einlässt, in deren Verlauf er einen Haufen kubanischer Revolutionäre kennenlernt und mit ihnen loszieht, um mit der Waffe in der Hand auf einer fernen, exotischen Insel die Welt umzukrempeln. Keiner meiner Freunde kann sich rühmen, einen solchen Bruder zu haben.«
Die eiskalte Exekution Ches hat die Gueveras erschüttert. Die Schwestern weigerten sich anfänglich kategorisch, über ihn zu sprechen. Zu tief saß der Schmerz. Und doch wurde die Familie noch posthum von Che beeinflusst. Die Geschwister, obwohl von den »Gesetzeshütern« argwöhnisch beobachtet und verfolgt, engagierten sich politisch. Auch während der »bleiernen Jahre« in Argentinien, die schon 1974 - vor dem Staatsstreich am 24. März 1976 - begannen und bis 1984 andauerten. Sie gehörten der Revolutionären Arbeiterpartei, der Partido revolucionarío de los Trabajadores (PRT) an, einer einflussreichen politisch-gewerkschaftlichen Organisation, die mehrere Bewegungen umfasste. Juan Martín war Mitglied des Flügels Frente anti-imperíalista por el Socialismo (Antiimperialistische Front für den Sozialismus). Am 3. Mai 1974 wurde er erstmals verhaftet. Er war gerade von Havanna nach Buenos Aires zurückgekehrt. Seine Frau María Elena und ihre drei gemeinsamen Kinder hatte er nach Kuba in Sicherheit gebracht, da das Klima in Argentinien für »Aktivisten wie uns, ganz zu schweigen von meiner Verwandtschaft mit Che, zunehmend beunruhigend und ungesund« wurde. Vater Ernesto Rafael Guevara Lynch war bereits im Jahr zuvor in die sozialistische Karibikrepublik übergesiedelt. Juan Martín aber war fest entschlossen, seine politischen Aktivitäten in der Heimat fortzuführen.
Auch über diese berichtet er in seinem Erinnerungsbuch. Im Mittelpunkt steht jedoch der große Bruder, den er auch vom immer wieder erhobenen Vorwurf der Grausamkeiten freispricht. »Nichts könnte falscher sein. Im kubanischen Dschungel behandelte er feindliche Gefangene mit Menschlichkeit. Wenn sie verwundet waren, wurde er zu ihrem Arzt und pflegte sie.« Die nach dem siegreichen Einmarsch in Havanna im Januar 1959 gefangen genommenen Büttel Batistas wiederum seien »keine Chorknaben« gewesen: »Hier hatte man ein Sammelsurium von Folterknechten schlimmster Sorte aus der kubanischen Diktatur vor sich, die andere bedroht, gequält, ermordet hatten.« Che bestand auf Prozessen, um sie vor Lynchjustiz zu schützen.
Die Wände in der Schule, in der Ernesto Che Guevara die letzte Nacht verbrachte, sind heute mit Bildern übersät, die seine letzten Stunden nachzeichnen. Und noch immer steht der Stuhl da, auf dem er saß, als Mario Terán Salazar in den Raum trat, um ihn zu erschießen. Juan Martín Guevera hegt keinen Groll gegen jenen Soldaten, der einen Befehl seiner Vorgesetzten ausgeführt habe.
Juan Martin Guevara: Mein Bruder Che. Tropen/Klett-Cotta, 351 S., geb., 22 €.
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