Es hat sich noch nicht ausgeluthert

Beobachtungen während eines Spaziergangs durch die Lutherstadt Wittenberg am Reformationstag

Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,/ Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.« Merkwürdig, statt eines Luther-Worts kommt einem Goethe in den Sinn - beim Herbstspaziergang durch die Altstadt von Wittenberg. Ob tatsächlich die erwarteten 35 000 Besucher an diesem Reformationstag herbeigeströmt sind, sei dahingestellt. Das Gewusel und Gewimmel beschränkte sich am vergangenen Dienstag nur auf das Areal zwischen Schlosskirche und Schwarzem Kloster. Schon in anliegenden Gassen und Straßen schien das Städtchen den Schlussakkord der Luther-Dekade zu verschlafen. Absolute Stille. Kein Mensch nirgends.

Und doch: Die Evangelische Kirche Deutschlands hat es tatsächlich geschafft, den Kampagnenmeister DDR blass aussehen zu lassen. Was war nicht allerorten los in deutschen Landen im letzten Dezennium! Zwischenzeitlich waren zwar Erschöpfungs- und Sättigungssymptome zu diagnostizieren, trotzdem wurde bis zum letzten Tag gefeiert, gesungen, gebetet, gepredigt, gepilgert, gestaltet, gemalt, geschrieben, gefilmt, gestritten, geprostet, gepostet ...

Auf dem Wittenberger Marktplatz ist kaum Durchkommen. Lärmendes, buntes Treiben zwischen den Buden, die allerlei Leckereien anbieten. Man kann »Martins Tropfen«, einen Beerenlikör, und »Frau Käthes Halbbitter« erstehen. Auch das Lutherbrot findet reißenden Absatz. Die schönen mittelalterlichen Kleider und Mäntel, aus Samt oder Leinen, geschnürt, gewickelt oder geknöpft, werden indes zu Preisen angeboten, die nicht für jeden erschwinglich sind.

Ein zünftig gekleideter Steinmetz lässt ahnen, wie schwer es seine Kollegen vor 500 Jahren hatten, mit Hammer und Meißel aus unförmigen Brocken filigranste Rosetten zu zaubern. Zum x-ten Mal heißt uns Martin Luther willkommen; erstaunlich, wie ein eben noch gertenschlanker Jüngling sich in einen reifen Mann mit respektabler Körperfülle verwandelt. Ihre Kutten füllen auch die Mönche aus Belarus gut aus. Begleitet von liebreizenden Nonnen rezitieren sie Bibelverse und lassen immer wieder wissen: »Danke Deutschland, danke für euren Luther!« Plötzlich ein Fanfarenstoß. Man ist gezwungen, dem Kurfürsten und dessen Gefolge Platz zu machen.

Die Bibel wird an diesem Tag vor Allerheiligen, an dem der berühmteste Wittenberger vor einem halben Millenium seine 95 lateinischen Disputationsthesen an das Portal der Schlosskirche wie auch immer angebracht haben soll, kostenlos verteilt. Den einstigen Tatort kann man nicht besuchen, der Sakralbau ist weiträumig abgesperrt, schon Stunden bevor der Festakt mit Prominenz aus Politik und Kirche beginnt. Schaulustige haben sich rechtzeitig vordere Plätze an den Gattern gesichert und harren des Augenblicks, an dem die honorige Gästeschar vorbeidefiliert.

Nun, wenn ein Blick auf und in die Schlosskirche nicht möglich ist, deren echte Thesentür sowieso schon im 18. Jahrhundert einem Brand zum Opfer gefallen ist, wird halt den Cranachs ein Besuch abgestattet. Das Interieur in Haus und Werkstatt des Malers ist zwar auch nicht mehr im Originalzustand erhalten. Immerhin, Fragmente alter Deckenfresken kann man bestaunen, raffiniert und Nackensteife vorbeugend per Blick in einen überdimensionierten, runden Spiegel. Grafiken, Flugschriften, Druckstock, Setzkasten, Farbpaletten und Pinsel erinnern daran, dass die PR-Agentur Lucas Cranach d, Ä. nicht nur die Bibelübersetzung Luthers vervielfältigte, sondern für rasche Verbreitung der Konterfeis des Reformator nebst dessen Gattin sorgte.

»Schlag auf Schlag« heißt die neue Sonderausstellung im Cranach-Haus (bis zum 18. Februar). Sie enthüllt, dass Brabax von den Abrafaxen Luther half, dessen ursprünglich 478 Thesen auf 95 zu kürzen, während Califax sich als Küchenjunge bei den Cranachs unentbehrlich machte. Die komplette Reformations-Serie des legendären ostdeutschen Comicmagazins »Mosaik« ist zur Enttäuschung vieler Besucher im Souvenirshop nicht mehr erhältlich. »Unsere Mittel sind zu bescheiden, um großzügig in Vorkasse zu gehen«, bedauert eine ehrenamtliche Mitarbeiterin. Die Dekade hat dem Cranach-Haus offenbar keinen finanziellen Jungbrunnen beschert. Man ist ergo auch weiterhin auf engagierte freiwillige Helfer angewiesen. Die Fans entschädigt wenigstens ein Selfie mit den Abrafaxen.

Auch im Luther-Haus machen die Touristen aus dem In- und Ausland reichlich Gebrauch von der Möglichkeit eines Selfies. Doch, halt: Auf dem Weg zum ehemaligen Augustinerkloster, in dem der Mönch Martinus lebte und in das er nach seinem Refugium auf der Wartburg zurückkehrte, um dort fortan mit Weib und Kinderschar zu leben, lohnt eine Visite im Melanchthon-Haus. Ungeachtet, dass dort keine Originale aus der Habe des Philologen und Philosophen zu entdecken sind, wie eine Angestellte informiert. Die »Grammatica« und eine Taschenuhr des drittberühmtesten Wittenbergers werden von der Lutherstiftung wie Augäpfel gehütet. Die Räume im Renaissancebau, in das der Humanist samt Familie 1539 einzog, wurden vor Jahren restauriert. Die spartanisch eingerichtete Stube wirkt anheimelnd.

Nun aber schnell noch zum Luther-Haus! »Die Collegienstraße immer geradeaus, vorbei an der Universität«, lautet die freundliche Auskunft einer Einheimischen. Fürwahr, je näher wir unserem Ziel kommen, umso dichter wieder die Menschentrauben. Die Dauer- und Sonderausstellung im Schwarzen Kloster können am diesjährigen Reformationstag nicht über mangelndes Interesse klagen. Stefan Rhein, Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, hat schon im September den 150 000. Besucher begrüßt. Es dürften mittlerweile einige Hundert dazugekommen sein.

Erstaunlich, wie wissbegierig die Gäste aus In- und Ausland die Exponate beäugen, wie akribisch die erläuternden Texte in Deutsch oder Englisch studiert werden. Hier gibt es alles - von der Ablasstruhe über die Bannbulle, diverse Bibeln, sogar in Hebräisch, Luthers Mönchskutte (geschützt in einer Glasvitrine; für’s Selfie muss eine Pappsilhouette genügen) sowie ein noch originales Zimmer. Aha, an diesem wuchtigen Kaminofen wärmte der Reformator also seine gichtigen Knochen. Und an jenem derben Holztisch ließ er sich von Käthe die Speisen servieren? In der noch bis Sonntag geöffneten Sonderausstellung »Luther! 95 Schätze - 95 Menschen« sind zudem ein güldener Ring der Lutherin, ein hölzerner La-trinensitz und Tierknochen zu bestaunen, die in Luthers Elternhaus in Mansfeld gefunden wurden.

Der Wittenberger Herbstspaziergang endet beim 360-Grad-Luther-1517-Rundbild von Yadegar Asisi, einem in Wien geborenen und in Berlin lebenden Künstler persischer Herkunft. Ein umtriebiger Mann stellt aus wildfremden Menschen eine Gruppe zusammen, damit es Rabatt gibt: »Come on«, winkt er verunsicherte »Amis« herbei, die schnell begreifen. Im Rondell dann konstatiert man: Hm, ein Vergleich mit Werner Tübkes Panoramagemälde der Schlacht von Frankenhausen verbietet sich.

Bleibt die Frage: Hat es sich nun ausgeluthert? Wir stellen sie dem berühmtesten zeitgenössischen Wittenberger. »Jetzt ist erst mal Pinkelpause«, antwortet Friedrich Schorlemmer frank und frei, wie es Luther lehrte. Der Theologe ist überzeugt: »Die Dekade hat Sinn gemacht, sie hat eine breitere Öffentlichkeit für unsere Geschichte interessiert, mit ihren Glanz- und Schattenseiten. Ich nenne nur den Dreißigjährigen Krieg und Johann Sebastian Bach, die Aufklärung und die braune Verirrung.« Was Luther angestoßen habe, werde Kirche und Gesellschaft weiterhin umtreiben. »Nach den vielen Rückblicken geht es nun aber um Vorausblick.« Man darf gespannt sein.

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