Zeitgeschichte im Krimi
Paul Kohl hat sich für Aufstieg und Fall des Hellsehers Erik Jan Hanussen interessiert
Als Horst Bosetzky vor zehn Jahren dem Berliner Kriminalkommissar Herrmann Kappe Leben einhauchte und die Kappe-Reihe das Ende der goldenen Zwanziger und den Übergang zur Nazi-Herrschaft erreichte, war das ein in Kriminalromanen noch spärlich beackertes Feld. Das hat sich inzwischen dank Volker Kutscher und dem von seinen Rath-Romanen ausgelösten Berlin-Babylon-Hype gründlich geändert. Paul Kohl, Jahrgang 1937, als Sachbuch- und Hörfunkautor mit der Spezialstrecke Drittes Reich bekannt geworden, widmet seinen Roman »Hitlers Prophet« einem der auffälligsten Ereignisse jener Zeit: dem Aufstieg und Fall des Hellsehers Erik Jan Hanussen. Neues wird man sich kaum davon versprechen, Hanussens Biografie liegt in etlichen Fassungen vor. Viermal ist sein Leben verfilmt worden - darunter in einem dreiteiligen, sehr erfolgreichen Fernsehfilm aus Adlershof nach dem Feuchtwanger-Roman »Die Brüder Lautensack«.
Kohl lässt den Journalisten Martin Stemmer im Januar 1933 nach Berlin reisen. Er soll das Verschwinden des Korrespondenten der Wiener »Arbeiter-Zeitung« aufklären und den vermissten Kollegen bis dahin ersetzen. Wie nicht anders zu erwarten, wird der einigermaßen ungeschickt agierende Fremde in den Strudel des politischen Geschehens jener Wochen gerissen und gerät in mancherlei Gefahr. Welche Berichte der recht blauäugig agierende Journalist nach Wien übermittelt und wie, bleibt offen. Kohl verfolgt nur Stemmers Berliner Abenteuer einschließlich einer Liebesgeschichte mit der jüdischen Kostümbildnerin Judith. Dabei gelingt es ihm durchaus, die Unruhe und Zerrissenheit der Zeit und den Terror der Nazis deutlich zu machen. Von Hanussen allerdings, den Stemmer anfangs bewundert, ist immer wieder die Rede, bevor der Gefeierte auf Seite 129 leibhaftig auftaucht. Stemmer bringt kein Interview mit ihm zustande und sieht sein einstiges Idol erst im gleichen Zustand wieder, in dem ihm schließlich auch sein Kollege Lechner begegnet: als Opfer eines nicht vollständig aufgeklärten Verbrechens.
Bei seinen mit überraschender Naivität geführten Ermittlungen trifft Stemmer allerlei historische Zeitgenossen: Hitlers Auslandspressechef Putzi Hanfstaengl hält die Hand über ihn, er lernt den SS-Führer Karl Ernst näher kennen, als ihm lieb sein kann, begegnet Hitler, befragt den ungewohnt hilflos und chaotisch wirkenden Ernst Gennat. Selbst der österreichische Journalist und frühe Hanussen-Biograf Bruno Frei gerät wie die meisten der echten oder erfundenen Protagonisten in Kohls Schilderung leider recht blass.
Die Crux historischer Romane steckt im Detail, und da fallen einem in Kohls Roman allerlei Ungereimtheiten auf. Dass er die Erfindung der Berliner Currywurst um zwei Jahrzehnte vorweg nimmt, Judith 1933 gern Platten von Teddy Stauffer hört, der die ersten Titel 1936 aufnahm, und Berliner Laubenpieper von ihrer »Datsche« reden, mag noch dahingehen. Da stehen Mülltonnen auf der Straße, die Häuser haben keinen Stillen Portier, sondern Klingelbretter, Drohbriefe und Patronen landen in Hausbriefkästen (wie sie auch Kutscher bevorzugt), die erst seit den sechziger Jahren existieren. Befremdlich auch, wenn ein Berliner Arbeiter frischen Streuselkuchen mit der Gabel isst und ein Redakteur der »Roten Fahne« ein paar Tage vor der Machtübernahme durch die Nazis zu der Einsicht gelangt: »Wir hätten uns von Stalins Knute lösen und einen deutschen, demokratischen, sozialen Kommunismus aufbauen müssen.« Und fortfährt: »Jetzt ist es zu spät.«
Paul Kohl: Hitlers Prophet. Historischer Kriminalroman. Emons Verlag, 336 S., br., 11,90 €
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.