Adolf? War ein Kommunist
CDU-Urgestein Norbert Blüm liefert «Einsichten eines linken Konservativen»
Menschen haben den seltsam natürlichen Drang, geführt und erlöst zu werden. Die Stärke dieses Drangs lässt sich nur mit der Heftigkeit des Hasses vergleichen, der irgendwann später genau jenen Machthaber trifft, der die Menschen führte und sie angeblich erlösen würde. Diese geschichtliche Erfahrung, oft genug mit Blut bezahlt, schuf die befriedende Notlösung: unsere Demokratie. Diese Relativierungspraxis, den Ausgleichsmechanismus. Bestes aller Westprodukte.
CDU-Politiker Norbert Blüm, Arbeitsminister unter Kohl, hat ein Buch zur Lage der demokratiefreundlichen und demokratiefeindlichen Dinge geschrieben: «Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht.» Der Zwickmühlenratschlag. Das Kulturgebot. Credo eines «linken Konservativen», der bei allem Aufruf zur Gelassenheit doch erregbar bleibt: «Rücksichtslosigkeit gegenüber der Erde und gegenüber dem Elend von Menschen kann man nicht widerstandslos hinnehmen.»
Zur List einer konservativen Dialektik, die vor allem Bewahrung, Erhaltung will, gehört also auch «Wut und Mut zum Eingreifen». Blüm schreibt: Was immer er im Leben getan habe, er sei stets «so klug wie vorher» gewesen, nämlich unsicher. «In Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben» - das ist sie, die «konservative Tapferkeit». Der Mensch, so der Autor, stehe fortwährend in Entscheidungszwängen, und im Falle fehlender Gewissheit hülfen zwei erprobte Regeln: «Im Zweifel für das Bestehende und im Zweifel für die Benachteiligten.»
Ein Buch zwischen Autobiografie und Leitfaden. Der 1935 Geborene erzählt von seinem Vater, der ein erfolgreicher Motorrad-Rennfahrer, aber kein Nazi war und also auf Karrierevorteile verzichtete. Wieso? «Er hat zu wenig von sich erzählt, ich habe ihn zu wenig gefragt.» Arroganz der Jugend, Trauer der Reife. Ein erschütterndes Erlebnis in der Heimatstadt Rüsselsheim: Ein US-Kriegsflugzeug wird von Himmel geschossen, Bürger der Stadt jagen die Piloten durch den Wald, schlagen sie tot. Nach dem Krieg ein mühsamer Prozess. «Keiner wollte zugeschlagen haben.» Die Hitlerzeit war auch kein Schulstoff, «so wenig Veränderung im Unterricht war nie».
Blüm hat als Werkzeugmacher eine proletarische Vergangenheit - woraus sich ihm der Maßstab aufbaute, was Gerechtigkeit sei: niemanden als niedrig zu betrachten. Wo man sich fremdes Leid ins eigene Gemüt holt, wächst ein wenig das Bewusstsein von der Unteilbarkeit der Welt. Für unser Leben im Westen heißt das: Jeder Nutznießer ist immer auch ein Verantwortlicher. Verantwortung fühlen bedeutet: freiwillige Selbstbelastung - und zwar mit den Sorgen derer, denen durch Ausbeutung und Ausgrenzung die Freude an sich selber abgesprochen wird.
Der legendäre, umstrittene Renten-Architekt singt das Lied der würdevollen Arbeit, aber er spricht nicht von Arbeiter-, sondern von «Arbeitnehmerbewegung». Er hält den politischen Kompromiss «für die nach der Erfindung des Rades wichtigste zivilisatorische Errungenschaft» - am Wegesrand jener konsequent Kompromisslosen, die mit dem Kopf durch die Wand wollen, «liegen nicht nur die Trümmer von zerbrochenen Wänden, sondern auch viele gebrochene Schädeldecken». Man spürt bei diesem Autor Grundgüte, ein betroffenes Herz. Das Buch erzählt von Zähigkeit, von Zugriffslust, vom Ruhe-Nerv in Streitzonen. Blüm war als CDU-Mann Anhänger der Ostpolitik Brandts, er plädierte 1989 für den schnellen Weg zur Wiedervereinigung, «dieser größten Reform der letzten hundert Jahre»; er sorgte im konservativen Lager für Kopfschütteln, als er in Chile offen gegen die US-Marionette Pinochet auftrat. Immer Emotion, immer Eigensinn.
In Parteien sieht Blüm nach wie vor wichtige Instrumente, um Konflikte zu behandeln, ehe sie von der Allgemeinheit in einer Weise entschieden werden, die den Staat trifft. Freilich habe sich die Landschaft verändert: Die SPD nennt er eine «Partei der Funktionäre», die FDP empfand er stets als «Fortsetzung der Arbeitgeberverbände mit anderen Mitteln», die Grünen erscheinen ihm als «Rache des Bürgertums an der Arbeiterklasse», und die AfD schließlich sei «die vergammelte Nachhut des Nationalismus». Auch der eigenen Partei liest er die Leviten. Christlich-soziale Politik habe zwei wichtige Bewährungsfelder: Es gelte, «Gott Mammon zu widerstehen und Europa die Bahn zu brechen». Furcht vor dem Islam? «Solange Fitnessstudios am Sonntag mehr frequentiert werden als Kirchen, können die christlichen Kirchgänger gar nicht von den Besuchern der Moscheen bedrängt werden - denn wo nichts drin ist, kann auch nichts bedroht werden.»
Zu den schönsten Passagen des Buches gehört Blüms Erinnerung an seinen kommunistischen Onkel Adolf, «mein »Spezialheiliger«. Ein Leben lang: Zankapfelwerfen. Wahlkampf vorm Opel-Tor, Norbert für die CDU, Adolf für die KPD, später DKP. Blüm erzählt heiter, gerührt, respektvoll. »Adolf war im Besitz der Wahrheit, und außerdem war er Inhaber einer stabilen Wertehierarchie - ganz oben stand die KPD, um Platz zwei stritten sich seine Frau und sein Auto.« Parteilichkeit lässt sich kaum treffender auf den Punkt bringen. Weil Adolf zwei russischen Fremdarbeiterinnen Essen gegeben hatte, war er in der Hitlerzeit verraten und für kurze Zeit ins KZ verschleppt worden. Der Denunziant: einer vom Kirchenvorstand. Blüm fragt: »Wer von beiden, das fromme Kirchenvorstandsmitglied Karl H. oder mein kommunistischer Onkel Adolf, stand mehr in der Nachfolge Jesu?«
Das Ex-Regierungsmitglied wirkt - schreibend - als ein sehr freier Mensch. Wahrscheinlich ist er längst freier, als er es in Funktion sein durfte. Denn Parteien sind kein freies Gelände, sie sind höchstens Gehege. Das sieht man den hohen Tieren an, die wir fortwährend auf dem Bildschirm sehen. Von rechts bis links, kein Unterschied. Die Freiheit all dieser Leute besteht oft nur im Einverständnis, gelebt zu werden. Dieser Eindruck spricht weder für die Leute noch für die Demokratie.
Blüm bebt und ist besinnungsvoll, er zürnt und meditiert. Du spürst Gesundheit. Die ist messbar daran, dass ein Mensch auch im Alter der Entzündbarkeit seines Gewissensnervs ausgeliefert bleibt. In einer Welt, in der leider allzu oft nur diese eine bittere, böse Frage gilt: Warum soll einer gut sein, auf seine eigenen Kosten? Gutsein ohne Preis lohnt sich nicht, sagt die unsoziale Marktwirtschaft. Inzwischen haben wir nichts mehr, was uns zurückhält: Mitteleuropäische Bankiers verwalten blutbeflecktes Geld ausländischer Diktatoren, unsere Wirtschaft profitiert vom Blut- und Waffengeld. Es geht uns gut - ohne dass wir gut sein müssen. Diese Wahrheit, die uns so schön satt macht, ist ein Armutsbeleg. Wir schlucken das. Und schreien dennoch auf, wie Blüm. Wir sind Artisten: Bauchredner der modernen Art - Schreien und Schlucken gleichzeitig. Das geht. Wie lange geht es gut? Norbert Blüm fragt und fegt falsche Beruhigungen vom Tisch.
Norbert Blüm: Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht. Einsichten eines linken Konservativen. Verlag Herder, 288 S., geb., 20 €.
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