Die Mär vom »guten Geld«
In Thüringen hat ein Bäcker im Schnitt ein Monatsbrutto von 1683 Euro - Handwerker haben’s oft schwer im Osten
Er war an jenem Tag im Oktober nicht der Erste, der diese eine These in den Raum stellte. Und er war auch nicht der Letzte. Schon weil das, was Thomas Malcherek damals in Erfurt sagte, alleine in den vergangenen acht Wochen in Deutschland dutzendfach wiederholt worden ist. Von größeren Handwerks-Lobbyisten wie Malcherek als Geschäftsführer des Thüringer Handwerkstages einer ist.
Doch war Malcherek bei seinen Ausführung über die gute Auftragslage im Thüringer Handwerk damals so sehr ins Schwärmen über seine Branche geraten, dass er diese eine These besonders hingebungsvoll und enthusiastisch vortrug: die Behauptung, im Handwerk ließe sich »gutes Geld« verdienen. Was er mit der Aufforderung an junge Menschen verband, sich doch gut zu überlegen, ob sie nicht statt eines Jobs in der Industrie oder statt eines Studiums lieber eine Ausbildung im Handwerk beginnen sollten. Als Elektriker zum Beispiel. Oder Fliesenleger. Oder Bäcker. Oder Hochbauer. Oder Maler. In Berufen also, in denen heute Maschinen aus dem Arbeitsalltag zwar nicht mehr wegzudenken sind. In denen aber noch vor allem mit den Händen gearbeitet wird, die eben Handwerk sind.
Immerhin, so argumentierte Malcherek, seien diese Jobs ja auch sicher, wo doch etwa in Bau- und Ausbaubetrieben die Auftragslage derzeit glänzend so wäre, dass kaum noch Potenzial für Steigerungen da sei. Im Bau- und Ausbaugewerbe etwa gebe es einen Auslastungsgrad von 100 Prozent, teilweise liege er sogar noch darüber. Denn manches Unternehmen, so Malcherek, könne seine Aufträge nur noch deshalb bewältigen, weil die Mitarbeiter dort Überstunden machten. All das trage auch dazu bei, dass die Aufstiegschancen im Handwerk hervorragend seien. Und sei die Qualifikation als Meister in einem Handwerksberuf nicht der Qualifikation ebenbürtig, die junge Menschen mit dem Erreichen es akademischen Bachelor-Abschlusses hätten?
Ähnlich hatte sich im vergangenen Jahr auch der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer, in einem Interview mit der »Schwäbischen Zeitung« geäußert. Mit Blick auf die angespannte Lehrlings-Situation bei Bäckern und Metzgern hatte Wollseifer dort gesagt: »Uns bereitet das natürlich Sorgen, weil dadurch später die Fachkräfte fehlen. In den Lebensmittelhandwerken produzieren wir eine sehr hohe Qualität. Das können wir nicht mit Angelernten machen, da brauchen wir Fachkräfte. Deshalb ist es so wichtig, mehr junge Leute zu überzeugen, dass es in diesen Berufen tolle Möglichkeiten gibt, sich zu verwirklichen und auch gutes Geld zu verdienen.«
Gerade im Osten Deutschlands allerdings ist die These vom »guten Geld« häufig nur eine Lobbyisten-Behauptung, die an Zahlen aus dem Alltag von Angestellten im Handwerk scheitert. Freilich gibt es sie, die Handwerker-Chefs, die ihren Mitarbeitern gute Löhne zahlen. Weshalb gern immer wieder auf einzelne Beispiele verwiesen wird, um die These zu belegen. Doch in der Mehrzahl der Handwerksbetriebe in Thüringen und anderen Bundesländern gerade im Osten sind die Einkommen der Beschäftigten im Handwerk teilweise deutlich niedriger als in Unternehmen außerhalb des Handwerkssektors, in denen diese Beschäftigten gemäß ihrer Qualifikation auch arbeiten könnten. Und für die sich junge Menschen immer öfter entscheiden.
Das lässt sich mit Gehaltsstatistiken der Bundesagentur für Arbeit belegen, denen ja die Daten von Millionen Beschäftigten in Deutschland zugrunde liegen. Nehmen wir zum Beispiel einen geradezu typischen Handwerker: eben jenen Bäcker, von dem Wollseifer sprach. In Thüringen kommt dieser Bäcker, wenn er in Vollzeit arbeitet, ausweislich der Daten der Arbeitsagentur auf ein mittleres monatliches Brutto-Einkommen in Höhe von 1683 Euro, inklusiver aller Zulagen; in Sachsen-Anhalt auf 1756 Euro; in Sachsen auf 1616 Euro; in Bayern auf 2176 Euro, in Baden-Württemberg auf 2218 Euro. Wobei die letztgenannten zwei Werte auch verdeutlichen, wie groß das Lohngefälle zwischen Ost und West gerade auch im Handwerk oft ist.
Oder nehmen wir einen Metzger, den die Agentur für Arbeit als Fleischer in ihren Datenbanken führt und der auch ein klassischer Handwerksberuf ist: In Thüringen verdient im Durchschnitt im Mittel 1763 Euro brutto pro Monat; in Sachsen-Anhalt 1807 Euro; in Sachsen 1681 Euro; in Bayern 2159 Euro; in Baden-Württemberg 2320 Euro. Immer dann, wenn er Vollzeit arbeitet, inklusiver aller Zulagen.
Oder Maler und Tapezierer. Deren mittleres durchschnittliches Vollzeiteinkommen beläuft sich den Agenturdaten zufolge in Thüringen brutto auf 2067 Euro pro Monat. Bei Hochbaufacharbeitern sind es 2346 Euro, bei Tiefbaufacharbeitern 2340 Euro, bei Dachdeckern 2228 Euro.
Wie sehr man sich anstrengen muss, in solchen und ähnlichen Gehältern »gutes Geld« zu sehen, wird schon deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das mittlere Bruttoeinkommen aller Berufe in Thüringen für einen Vollzeitbeschäftigten Ende Dezember 2016 nach Angaben der Arbeitsagentur bei 2367 Euro lag, in Sachsen-Anhalt bei 2408 Euro.
Mit anderen Worten: Handwerker im Osten erhalten häufig gerade so das mittlere Einkommen ihrer Region, sehr oft sogar weniger als diesen Betrag. Was maßgeblich erklärt, warum so viele Handwerksbetriebe so große Schwierigkeiten haben, Lehrlinge zu finden. Denn vor allem jungen Realschülern stehen heute deutlich mehr Berufe offen als Ende der 1990er oder Mitte der 2000er Jahre, als es noch viel mehr Absolventen als Ausbildungsplätze gab.
Wer einen Realschulabschluss oder Abitur hat, kann rein nach der Qualifikation heute viele Berufe ergreifen, die in der Regel deutlich besser bezahlt sind als Jobs im Handwerk. Ein Bürokaufmann kommt in Thüringen nach Daten der Arbeitsagentur auf ein mittleres Einkommen in Höhe von 2346 Euro - ohne, dass er im Alter noch Stahlträger schleppen oder eine Baugrube ausheben müsste.
Attraktiv in dieser Hinsicht ist auch der Staatsdienst. So verdienen Polizisten im mittleren Dienst - eine Laufbahn, die nach Angaben des Landespolizei Hauptschülern mit abgeschlossener Berufsausbildung, Realschülern und Abiturienten offen steht - in Thüringen unmittelbarer nach ihrer Ausbildung in der Regel bereits mehr als 2200 Euro brutto pro Monat. Und selbst wer nie befördert würde, bekäme damit als Polizist im mittleren Dienst fast 2900 Euro brutto pro Monat am Ende seiner Karriere - ausweislich der 2017er Gehaltstabelle für den öffentlichen Dienst in der Besoldungsgruppe A7.
Dieses Gehaltsgefälle von vielen Handwerksberufen gegenüber anderen Tätigkeiten erklärt auch, warum sich Handwerks-Lobbyisten so nachdrücklich dagegen aussprechen, dass immer mehr junge Menschen Abitur machen und dann vielleicht sogar studieren gehen. So, wie Malcherek, das im Oktober auch tat.
Angesichts der vollen Auftragsbücher der Handwerker, so argumentierte Geschäftsführer des Thüringer Handwerkstages, sei es doch wichtiger für Deutschland, dass genügend angehende Handwerker da seien, um in Zukunft zum Beispiel Straßen und Häuser zu bauen. Wer brauche da noch mehr Theoretiker oder gar studierte Sozialarbeiter? Tatsächlich aber steht hinter solchen Worten auch eine Furcht: Dass sich junge Menschen noch viel häufiger für einen nicht-handwerklichen Beruf entscheiden, wenn ihnen mit einem höheren Bildungsabschluss mehr Optionen am Arbeitsmarkt offen stehen und sie damit bessere Verdienstmöglichkeiten haben.
Allerdings: Noch mehr als die Chefs der Handwerksunternehmen haben wir alle unseren Anteil daran, dass die Verdienstmöglichkeiten im Handwerk aller Theorie vom »guten Geld« zum Trotz nicht groß sind. Wer will schon 20 000 Euro statt 10 000 Euro für die Sanierung seines Bades bezahlen? Und wer möchte für ein Brötchen einen Euro statt 40 Cent auf den Tresen legen?
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