Wer einen Menschen rettet ...

Bettina Wegner singt auch mit 70 noch berührende Lieder - obwohl die Träume ausgeträumt sind

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Schon wieder die Brille vergessen und derart blind nicht fähig, den Liedtext abzulesen, der als Gedächtnisstütze auf dem Notenpult liegt. Bettina Wegner muss am Mittwochabend wiederholt hinter den schwarzen Vorhang eilen, um ihre Sehhilfe zu holen, bevor sie ans Mikrophon tappelt. »Alt werden«, entschuldigt sie sich bei ihrem Publikum in der Berliner »Wabe«, »ist scheiße«. Rhetorische Pause. »Aber jung sterben ist noch beschissener.« Dann moderiert die zierliche Sängerin, die im November 70 wurde, ein Lied an, das sie für ihren Großneffen Vincent geschrieben hat - den Menschen, wie sie sagt, »von dem ich am meisten gelernt habe«. Die Ärzte hatten dem Kind, das mit einer schweren Stoffwechselerkrankung geboren wurde, nur ein paar Monate Lebenszeit prophezeit; dem zum Trotz wurde der Junge zwei Jahre alt, ehe er starb.

Ein Kleinkind als wichtigster Lehrmeister einer Frau, die mit dem Dichter Thomas Brasch und dem Schriftsteller Klaus Schlesinger liiert war, die eine Affäre mit Oskar Lafontaine hatte und sich zwischen all den stimmgewaltigen Menschen, die ihren Weg durchkreuzten, ihre zartstarke Persönlichkeit nie austreiben ließ? »Wärme und Vertraun und unsre Endlichkeit«, singt sie in »Vincent« so intensiv, dass nur ein steinernes Herz nicht ergriffen wäre, »all dies haben wir von dir gelernt./ Deiner Mutter Liebe, ihre Einsamkeit,/ dass man hier ist und sich doch entfernt«.

Die Weisheit der Kinder. Auch wer Bettina Wagner nicht kennt, kennt dieses eine Lied von ihr: »Sind so kleine Hände«. Vor über 40 Jahren hat sie es geschrieben, lange bevor die Unbeugsame, die seit ihrem Protest gegen den sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 kaum noch offiziell auftreten durfte, 1983 aus der DDR ausgebürgert wurde: »Ist so’n kleines Rückgrat - sieht man fast noch nicht/ Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht.« Irgendwann, als man sie in Ost wie West nur noch auf diese Verse zu reduzieren schien, wollte Wegner das Lied nicht mehr singen. Erst ihre Söhne, sagt sie nun, bevor sie es anstimmt, haben den Bann gebrochen. Eines Tages hätten sie eine Platte der Punkband Daily Terror mit nach Hause gebracht, darauf eine Coverversion, die sich so anhört: »Sind so kleine Biere, sind so schnell dahin,/ darf man nie schnell trinken, ist sonst nichts mehr drin.« Statt, wie zu erwarten, sich über den respektlosen Missbrauch ihrer berühmten Zeilen zu empören, sei sie begeistert gewesen - aus Stolz darüber, »dass dieses Lied doch einen Gebrauchswert hat«. Punks, fügt sie schwer berlinernd hinzu, finde sie sowieso gut.

Das Pathos in Wegners Liedern, das nicht in unsere vom ironischen Blick gebrochene Zeit passt, die Inbrunst, mit der sie noch immer singen kann, als wären die Sechziger nie vergangen, scheinen im Widerspruch zu dieser Verschwesterungserklärung zu stehen. Dabei erklärt das Bekenntnis zu den Punks einen Gutteil von Wegners Wirkung noch auf heutige Ohren, Seelen. Niemals konform zu gehen mit den politischen und wirtschaftlichen Mechanismen, die jede Gegenwart kriegerisch formen, sich den Stürmen entgegenzustemmen, selbst wenn man keinen Schritt vorwärtskommt - das ist die Haltung, mit der Wegner sich treu bleiben konnte. Weil das dank ungebrochener Stimme bis ins Alter zu hören ist, wird sie von ihren Zuhörern geliebt.

Die Stimme ist stark geblieben, aber die Hände spielen seit einer OP-Panne nicht mehr mit - jedenfalls nicht auf der Gitarre. In der »Wabe« übernahm diesen Part ein Mann, der unter Hut und Sonnenbrille Udo Lindenberg gleicht, aber anders als jener ehern schweigt und stattdessen virtuos sein Instrument sprechen lässt. Die Liebe zur spanischen Musik brachte diesem Deutschen, der mal Jens-Peter Kruse hieß, seinen Künstlernamen ein: El Alemán.

Der zweite Mann auf der Bühne ist Karsten Troyke, mit dem Wegner 2007 schon ihre »Abschiedstournee« bestritt. Troyke, ein Sohn des DDR-Jazz-Paten Werner »Josh« Sellhorn, ist nicht nur sichtlich ein Künstler, der sich dem Leben ohne Rücksicht auf sich selbst, aber voller Rücksicht auf andere aussetzt und hingibt. Er ist vor allem ein Sänger, der seine imposante Bassstimme am liebsten der melancholisch gewitzten Weisheit jiddischer Lieder widmet. Auch ein arabisches Lied interpretiert er an diesem Abend, dann eines, das er aus dem Hebräischen nachgedichtet hat, und immer wieder betörend traurige Roma-Gesänge. Den Song, den Leonard Cohen über all die Liebe schrieb, die durch die Shoah verhindert wurde - und für die Liebenden, die keine sein durften - singt Troyke mit Wegner im Duett. Zum Heulen schön.

Sie wisse, sagt Bettina Wegner irgendwann an diesem Abend, dass ihre Wünsche und Träume sich nicht erfüllen werden, und auch nicht die ihrer Söhne. Aufgeben dürfe man das Wünschen und Träumen aber selbst in diesem Wissen nie. »Die Welt stirbt leise, stilles Schreien hört man nicht«, heißt es in einem Lied, das sie ihrer Mutter zum 90. schrieb, und weiter: »Es hilft kein Weinen und es hilft auch kein Gedicht./ Und trotzdem hoffe ich - und nicht auf Knien!« Auch die Zeile, die mir nach dem Konzert am längsten nicht aus dem Kopf will, weil in ihr fast alles konzentriert ist, was Wegner zu sagen hat, entstammt diesem Lied: »Wer einen Menschen rettet, rettet so die Welt.«

Wegners nächstes Konzert findet am 25.4. wieder in der »Wabe« statt, Danziger Str. 101, Berlin-Prenzlauer Berg. Die fünf CDs im Schuber mit 120 Liedern, die die Sängerin anlässlich ihres 70. Geburtstags veröffentlichte, sind ausschließlich bei ihr per E-Mail zu beziehen: info@bettina-wegner.de.

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