Expressionismus vor der Haustür

Die Schmargendorfer Kreuzkirche steht als Sakralbau für die Architektur-Avantgarde der 20er und 30er Jahre

  • Lesedauer: 6 Min.

Von Martin Hardt

»Die UNESCO hat die Siedlungen der Berliner Moderne im Juli 2008 in die Liste des Welterbes aufgenommen. Die sechs denkmalgeschützten Siedlungen repräsentieren einen neuen Typus des sozialen Wohnungsbaus aus der Zeit der klassischen Moderne und übten in der Folgezeit beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung von Architektur und Städtebau aus.«, schreibt die Organisation auf ihrer Homepage. Zu ihnen zählen die sechs repräsentativen Wohnhaussiedlungen der Berliner Moderne: die Gartenstadt Falkenberg, die Siedlung Schillerpark, die Großsiedlung Britz, die Wohnstadt Carl Legien, die Weiße Stadt und die Großsiedlung Siemensstadt. Für ihre Architekten wie Bruno Taut und Franz Hoffmann, Bruno Ahrends, Wilhelm Büning, Otto Rudolf, Otto Bartning, Fred Forbat, Walter Gropius, Hugo Häring, Paul Rudolf Henning, Hans Scharoun waren die Siedlungen in erster Linie soziale Gegenentwürfe gegen den Mietskasernenbau, dessen Konzept und Menschenbild aus dem 19. Jahrhundert stammte. Bis heute atmen ihre Siedlungen den politischen, ästhetischen Aufbruchsgeist der 20er und 30er Jahre.

Ihnen ging es nicht um einen Bruch mit der klassischen Architektursprache, sondern um eine Neuinterpretation - eine »aktive Bauform der Zukunft«, wie Hans Hansen 1920 ihre Vision zusammenfasste. Diese neue Art des Bauens fand vor allem in den an das Zentrum Berlins angrenzenden Vierteln und den Außenbezirken jenseits der S-Bahn statt. Ein erheblicher Anteil der entstandenen Gebäude waren Abspannwerke, Bahnhöfe, Wassertürme oder Betriebshöfe. Aber auch in Industriegebäuden, Schulen, Kirchen und Wohnhäusern findet sich der expressionistische Baustil wieder.

Ein Paradebeispiel ist die Kreuzkirche im Charlottenburg-Wilmersdorfer Ortsteil Schmargendorf, ein Juwel des steinernen Expressionismus. Das Gotteshaus entstand 1927 bis 1929 nach den Plänen von Ernst Paulus und seinem Sohn Günther. Sie planten auch die Künstlerkolonie in Wilmersdorf (1927-31). Ernst Paulus hatte schon Erfahrung im Kirchenbau gesammelt und schuf in in Berlin bis 1911/12 acht Kirchen. »Darunter zeigen die Erlöserkirche in Moabit (1909-12) und die Osterkirche in Wedding (1911) bereits das Motiv des massiven Westturms, das bei der Kreuzkirche wieder auftauchen sollte. An ihr findet sich der für Ernst Paulus typische, ebenso künstlerisch kreative wie handwerklich ausgefeilte Einsatz von Backstein. Für die modernen Akzente und technischen Neuerungen hingegen dürfte Günther Paulus maßgebliche Anstöße gegeben haben«, ist unter www.strasse-der-moderne.de nachzulesen.

So prächtig und massiv und doch fein ist die Ziegelfassade gestaltet, dass der Betrachter nicht einen Moment glauben möchte, dass es sich hier um eine für damalige Zeit revolutionäre Stahl- und Betonkonstruktion handelt, die eben wohl auf Günther Paulus zurückgeht. Nach dem Kriege machte er in Südamerika mit moderner Architektur Furore.

Felix Kupsch gestaltete die langgestreckten Engelsfiguren an den Turmecken und vor allem das aufsehenerregende, blau glasierte, figürlich geschmückte Pagodenvordach. Nicht minder prägend ist das originale, heute teils nachgestellte Farbkonzept für die Innenräume von Erich Wolde. Das fünf Meter hohe Porzellankreuz, die Bronzeleuchter, die Kanzel und das Taufbecken nach Entwürfen von Max Esser wurden im Krieg zerstört, der ohne Günther Paulus’ Stahlbetonkonstruktion wohl kaum einen Stein auf dem anderen gelassen hätte. Heute steht auf dem Altar das kleinere Modell des verlorenen Porzellankreuzes von Felix Kupsch.

Für »Fresko - Das Magazin für Kultur und Kunstgenießer« sind die mannigfaltigen Berliner Beispiele expressionistischer Architektur Zeugen der Avantgarde. Es zählt in einer Besprechung des Buches »Fragments of Metropolis« von den Architekten Christoph Rauhut und Niels Lehmann (Hirmer Verlag) weitere, oft unbekannte Beispiele wie die MariaMagdalena­Kirche, das ehemalige Eierkühlhaus im Berliner Osthafen, die Jüdische Mädchenschule, das Fernsprechamt Mitte, den Einsteinturm in Potsdam und die Chirurgische Pferdeklinik der Humboldt-Universität auf. 2010 begannen die beiden Architekten Christoph Rauhut und Niels Lehmann in Berlin und Umgebung, die Architektur des Expressionismus aufzuspüren und zu fotografieren.

135 Gebäude, viele davon in ihrer architektonischen Bedeutung vergessen und manche vom Verfall bedroht, haben sie in einem kompakten und dennoch umfangreichen Fotobuch zu einer eindrucksvollen Dokumentation zusammengestellt. Die Abbildungen werden zum Teil um Grundrisse und Planungszeichnungen ergänzt, und eine Berlinkarte mit genauen Standorten der Bauwerke bietet eine praktische und einladende Orientierungshilfe. Es scheint, als sei das entstandene Werk das Nonplusultra für architekturinteressierte Berliner und ihre Gäste.

Dabei ist die Einordnung und das Verstehen wunderbarer Gebäude nur die eine Seite einer Medaille. Sie prägen auch das Leben der Menschen, die in ihrem Umfeld leben. Erst seit jüngster Zeit sind die Glocken der Kreuzkirche wieder zu hören. Vor neun Jahren brach ein Aufhängebolzen des Glockenstuhls und ließ ihn zusammenbrechen. Bis dahin gab ihr samtenes, aber nicht leises Dröhnen einen Gutteil des Lebensrhythmusses der Menschen an diesem Teil des Hohenzollerndamms vor. Der Evangelische Kirchenkreis musste über 300 000 Euro Spenden zusammenbringen, um das Geläut reparieren und im gleichen Zuge modernisieren zu lassen. Lange schien es, als blieben sie für immer still.

Eigentlich hätten die gussstählernen Giganten schon zum vergangenen Reformationstags wieder läuten sollen, da hatte die lebendige Kreuzkirchengemeinde viele Übernachtungsgäste in das Kirchenschiff eingeladen. Dann aber sollte es der 10. Dezember, ein Sonntag, werden. Wieder nichts. Der Pastor musste den wohl 100 Anwesenden gestehen, dass eigentlich alles - bis auf die beim Absturz ebenfalls beschädigte Kirchturmuhr - fertig sei und funktioniere, allein, kurz vor der Einweihung, habe man ihn polizeilich darauf hingewiesen, dass die ehemalige Baustelle noch nicht behördlich aufgehoben und die Glocken deshalb auch nicht in Bewegung gesetzt werden dürften. Es ist eher unwahrscheinlich, dass dieser »Tipp« eine sonntägliche Initiative der Ordnungshüter war.

Der kam mit Sicherheit von außen, wie sich viele Anwesende sicher waren. Denn die Umgebung der Kreuzkirche gehört zu einem der Gentrifizierungsschwerpunkte der Stadt, der es, weil kein sozialer Brennpunkt, wohl kaum ins öffentliche Interesse schaffen wird. Man könnte meinen, hier verdränge nur neues Geld das alte und vergisst dabei die Otto Normalverbraucher am Hohenzollerndamm. Deren Miete steigt alle zwei Jahre mit jedem neuen »Townhouse« in einer der Nebenstraßen via Mietspiegel, von dem gerade entstehenden Wohnblock anstelle eines großen Teils der Kleingartenanlage Oeynhausen ganz zu schweigen. Die neuen Schmargendorfer können mit den Glockenschlägen der Kreuzkirche weniger anfangen als jene, denen seit dem Glockenabsturz etwas fehlt. Deren Gemeinde schrumpft, wie fast überall, und ist doch ein Kulturtreff der Umgebung, auch für jene, die keinen Draht zum religiösen Denken haben.

Heute erzählen die Engel an der Backsteinfassade der Kreuzkirche noch vielen eine Geschichte, auch wenn sie ihnen nicht mehr so bekannt sein dürfte wie den Erbauern und den Gläubigen, die hier beten und Konzerten lauschen. Das mag auch der Bildsprache des Expressionismus geschuldet sein. Im Grunde aber bleibt die Frage, wie in Zukunft mit Sonderräumen wie der Kreuzkirche umgegangen wird. Geben wir auch ihrer Botschaft Raum?

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