Einer frei, andere verurteilt

Die Freilassung von Deniz Yücel macht keine Hoffnung auf Rückkehr der Pressefreiheit

»Wir freuen uns sehr, dass Deniz Yücel endlich aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Die Entscheidung war längst überfällig. Dass ein Journalist ein Jahr wegen absurder Anschuldigungen festgehalten wird, ist eine Schande für die türkische Justiz«, erklärte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, nachdem am Freitag bekannt wurde, dass der »Welt«-Korrespondent freikommt. »Die Freude über die Freilassung von Deniz Yücel ist groß«, freuten sich auch die LINKE-Parteichefs Katja Kipping und Bernd Riexinger.

Doch »Reporter ohne Grenzen« wie auch die Linksparteiführung richteten den Blick sogleich auf die vielen weiteren bedrängten Journalisten. »Trotz der guten Nachrichten und des jüngsten diplomatischen Tauwetters zwischen Berlin und Ankara darf der Druck auf die türkische Regierung nicht nachlassen. Es sitzen immer noch mehr als 100 Journalisten in türkischen Gefängnissen«, so »Reporter ohne Grenzen«. Ebenso groß wie die Freude müsse »die Entschlossenheit sein, gegen das Erdogan-Regime zu protestieren. Denn auch nach der erfreulichen Freilassung von Deniz sind die türkischen Gefängnisse voll von Menschen, deren einziges ›Verbrechen‹ darin besteht, eine andere Meinung als Erdogan zu haben«, schrieb die Linkspartei.

So liegen auch am Freitag Freud und Leid in Sachen Meinungsfreiheit in der Türkei sehr dicht beieinander: Während nämlich noch die Glückwünsche für Yücel und die Mahnungen, weiter für die Freiheit von Journalisten zu streiten, über die Agenturen laufen, macht eine Schlagzeile deutlich, dass eine Freilassung noch lange keine Rückkehr zur Pressefreiheit ist: »Mehrere Journalisten in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt.« Betroffen sind laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu der frühere Chefredakteur der inzwischen geschlossenen Zeitung »Taraf«, Ahmet Altan, sowie sein Bruder, der Ökonomieprofessor und Autor Mehmet Altan, die Journalistin Nazli Ilicak sowie drei weitere »Taraf«-Mitarbeiter. Ihr Vergehen: angebliche Verbindungen zur Gülen-Bewegung, die das Erdogan-Regime für den gescheiterten Putschversuch verantwortlich macht. Insgesamt sollen sich in der Türkei etwa 150 Journalisten und Medienmitarbeiter in Haft befinden.

In Deutschland und natürlich bei Yücels Familie und seinen Mitstreitern überwog am Freitag jedoch zunächst die Freude über seine Freilassung nach etwas mehr als einem Jahr in türkischer Haft ohne Anklage. Yücels Anwalt Veysel Ok twitterte ein Bild des Journalisten, auf dem er seine Ehefrau Dilek Mayatürk Yücel umarmt. »Endlich!!! Endlich!!! Endlich!!! Deniz ist frei!«, hatte diese kurz zuvor bei Twitter geschrieben. Dahinter setzte sie ein Herz. Aus der Solidaritätsaktion im Kurznachrichtendienst Twitter unter dem Hashtag FreeDeniz wurde DenizFree.

Zuvor hatte die zuständige Staatsanwaltschaft endlich die Anklageschrift vorgelegt, in der sie wegen »Terrorpropaganda« und »Volksverhetzung« bis zu 18 Jahre Haft für Yücel fordert. Ein Gericht nahm die Anklageschrift laut Anadolu am Freitag zwar an, entschied aber zugleich, dass er für die weitere Dauer des Prozesses freigelassen wird. Acht Artikel, die zwischen dem 19. Juni 2016 und dem 12. Dezember 2016 in der »Welt« veröffentlicht wurden, dienen in der Anklageschrift unter anderem als Belege für die Anschuldigungen - außerdem auch noch ein Witz über Kurden und Türken aus einem Artikel.

Trotz seiner Freilassung wird das Strafverfahren gegen Yücel eröffnet werden. Der »Welt« zufolge gilt keine Ausreisesperre für ihren Korrespondenten. »Ich gehe davon aus, dass er das Land verlassen wird«, erklärte Außenminister Sigmar Gabriel (SPD). Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes betonte, dass es keinen »Deal in irgendeiner Form gegeben hat«, um Yücels Freilassung zu erreichen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dankte Gabriel, seinem Ministerium und »allen, die sich dafür eingesetzt haben«, dass Yücel freigekommen sei. Mit Agenturen

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.