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Der einzige legitime Erbe
Alt-»Achtundvierziger« Walter Schmidt über die 1848er Revolution in der DDR und in seinem Leben
Letzteres sagte zu mir einmal Volker Schröder, Gründer und Frontmann der »Aktion 18. März«, die sich dafür einsetzt, das Datum in Erinnerung an die Revolution von 1848 zu einem nationalen Gedenktag in Deutschland zu erklären. Und die schon viel zur Pflege der 48er Tradition geleistet hat, beispielsweise einen Platz des 18. März unweit des Brandenburger Tors in Berlin aus der Taufe hob und sich nicht zuletzt für den Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain einsetzte. Geärgert habe ich mich über diese Benennung nicht, im Gegenteil, ich fühle mich geehrt.
Walter Schmidt, 1930 in Protsch-Weide im Landkreis Breslau in einer antifaschistischen Arbeiterfamilie geboren, war von 1965 bis 1990 Vizepräsident der Historiker-Gesellschaft der DDR, gehörte der Kommission der Historiker der DDR und der UdSSR an und war von 1989 bis 1993 Mitglied des Vorstands der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam sowie bis 2016 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Marx-Engels- Gesamtausgabe (MEGA). Mit ihm sprach nd-Redakteurin Karlen Vesper.
Sie haben über nationale Grenzen hinaus einen Namen als Forscher über 1848. Wie kamen Sie zu diesem historischem Sujet?
In meinem Elternhaus stand 1918, also die Novemberrevolution, auf der Tagesordnung, weil der Vater dabei gewesen ist. Von 1848 war nie die Rede, nur von Heinrich Heine und seiner Loreley und dem deutschen »Wintermärchen«, was ja immerhin die Zeit tangiert. Für diese Revolution gab es in der schlesischen Ecke, in der ich aufwuchs, keinerlei im Volke erhalten gebliebene Erinnerung. Auch in den Schulen, die ich bis 1945 besuchte, war sie kein Thema.
Als aber das mir bis dahin unbekannte Revolutionsjahr 1948 seinen 100. Jahrestag hatte, lebte ich nicht mehr im schlesischen Oderstädtchen Auras, sondern war Oberschüler in der Theodor-Neubauer-Oberschule im thüringischen Greiz. Da las ich, schon seit längerem geschichtsneugierig, alles, was mir zu 1848 in die Finger kam. Vor allem Artikel von Wolfgang Leonhard in der für junge Leute geschriebenen »Start«, meinem damaligen politischen Hausblatt, stillten meinen Wissensdurst. Wobei mir die größere Französische Revolution von 1789 und die folgenden Jahre - wegen der Sansculotten und auch Napoleons - attraktiver erschien. Zu 1848 hingegen blieben bei mir vor allem die Niederlage und der Verrat der Bourgeoisie hängen. Aufgehellt schien mir dieses dramatische Jahr lediglich durch das im Februar erschienene »Manifest der Kommunistischen Partei« von Marx und Engels, das mir im Abitur immerhin eine ordentliche Abschlussnote einbrachte. Die Marginalien an der »Manifest«-Ausgabe von 1946 schaue ich mir als meine ersten Kontakte mit dem Marxismus heute noch bisweilen gern an.
Im Jahr der Gründung der DDR nahmen Sie Ihr Geschichtsstudium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena auf. Geriet da 1848 in Ihren Fokus?
Zunächst habe ich mir an der Jenenser Salana die ganze Breite und Weite der Geschichte eröffnet. Die Erleuchtung für 1848 kam nicht so sehr durch die Vorlesungen oder Seminare, in denen jene Revolution kaum eine Rolle spielte, sondern mit dem Thema, das mir im Januar 1953 Karl Griewank, Revolutionshistoriker par excellence und mein wichtigster Jenenser Hochschullehrer, für die schriftliche Examensstudie vorgab: »Marx und Engels und die ›Neue Rheinische Zeitung‹ sowie die revolutionären Bewegungen in Polen 1848/49«. Was für eine Chance! für mich, der seine Wurzeln im heutigen Polen hatte. Sie verwob die deutsche Revolution mit den Bemühungen der Polen um ihre nationale Unabhängigkeit und Freiheit. Und das alles reflektiert durch das Blatt der Kommunisten um Marx und Engels, die ihren Kampf um die Arbeiterpartei auch mit dem Schicksal der polnischen Demokratie verbanden. Die Recherchen dafür - vor allem in dem zu meinem Glück in Jena aufgefundenen Nachdruck der »Neuen Rheinischen Zeitung« - waren mein erstes Forschungserlebnis.
Ein beglückendes, erfolgreiches?
Ja, es brachte mich nicht nur ordentlich durchs Examen, sondern gedieh 1961 zu meiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung. Ich fühlte mich da schon ein wenig als ein »Achtundvierziger«. Danach habe ich mich als Assistent, Dozent und Professor natürlich auch auf anderen historischen Feldern tummeln müssen. 1848 und das Umfeld, die frühe deutsche Arbeiterbewegung und die Marx-Engels-Forschung eingeschlossen, blieben im Zentrum meines wissenschaftlichen Lebens. Davon ließ ich mich nicht abbringen, so viel Konzessionen ich auch anderen, sicher nicht unwichtigen Themen der Zeitgeschichte gegenüber machen musste.
Haben Sie die Ereignisse in Schlesien 1848/49 stärker interessiert?
Mich hat vor allem die Biografie des Schlesiers und Marx-Freundes Wilhelm Wolff gefesselt. Ich promovierte über ihn. Dann arbeitete ich an der achtbändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von 1966 mit. In der Zeit zwischen dem 120. und 125. Jahrestag der 1848er-Revolution erfüllte ich mir dann einen Traum. Mit Gerhard Becker, Helmut Bleiber, Rolf Dlubek, Siegfried Schmidt und Rolf Weber schrieb ich die »Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49«, die bis 1988 drei Auflagen erlebte.
Wie heute in der Bundesrepublik gab es auch in der DDR zu den entsprechenden Jahrestagen geschichtspolitische Kampagnen. Mit Akzentverschiebungen?
Natürlich. Wir Historiker erkannten und konnten das auch publik machen, dass der »bourgeoise Verrat« der Revolution etwas differenzierter gesehen werden muss. Und vor allem, dass auch gescheiterte Revolutionen wie die von 1848 geschichtsmächtige Wirkungen hervorbringen, dem gesellschaftlichen Fortschritt den Weg bahnen helfen. Echt gefreut habe ich mich über eine Rezension der »Frankfurter Rundschau«. Sie kritisierte scharf, dass man in der Bundesrepublik 100 Jahre Reichsgründung mit offiziellen Pomp feierte, während die Revolution von 1848/49 ins Kulturprogramm abgeschoben wurde. Im Gegensatz zur DDR. Der Rezensent schlussfolgerte: »So beansprucht die DDR mit einem gewissen Recht, einziger legitimer Erbe dieser Revolution zu sein.« Und er plädierte dann sogar für eine gemeinsame Erarbeitung der 1848er Tradition.
Einen Revolutionslehrstuhl gab es in der DDR aber nur in Leipzig.
Das stimmt und ich erinnere mich gern an die enge Zusammenarbeit mit dem unter Regie von Walter Markov und Manfred Kossok stehenden Leipziger Zentrum für vergleichende Revolutionsgeschichte. An den Beratungen des Leipziger »Revolutionstribunal«, wie wir es auch mal spöttisch nannten, habe ich regelmäßig teilgenommen. Den Band vier einer zwölfbändig geplanten »Deutschen Geschichte«, der die Epoche der bürgerlichen Umwälzungen von 1789 bis 1848 in Deutschland mit 1848/49 als Mittelpunkt zum Gegenstand hatte, erarbeitete ebenfalls eine Autorengruppe. Dazu gehörten jetzt auch Helmut Bock, ein exzellenter Kenner des 19. Jahrhunderts, und Heinrich Scheel, der als junger Mann im Widerstand gegen Hitler stand und zehn Jahre Präsident der Historiker-Gesellschaft der DDR war. Der Band erschien 1984.
Gab es so etwas wie eine innere Mission oder Botschaft, die Sie mit diesem Band in die Öffentlichkeit tragen wollten?
Unser gemeinsames Anliegen war, einem Geschichtsbild unter den Deutschen Geltung zu verschaffen, in dem 1848 und nicht 1871, die Revolution und nicht die preußisch-reaktionär geprägte Reichsgründung, das wichtigste Ereignis des deutschen 19. Jahrhunderts war. Eine Sicht, die trotz der Niederlage der Revolution von 1848 und des Sieges einer »Revolution von oben« zeigte, dass die revolutionären Kämpfe für Demokratie, getragen von den Massen, den Arbeitern, Bauern, Handwerkern, aber auch Intellektuellen und echten Liberalen aus dem Bürgertum, den gesellschaftlichen Fortschritt voranbrachten.
Der schon 1985 gefasste Plan der »Achtundvierziger«-Historiker der DDR, zum 150. Jahrestag, also 1998, auf der Basis der neuesten Forschungen wieder eine große, dreibändige Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49 vorzulegen, scheiterte an den Wirren der sogenannten Wendezeit.
Aber Sie haben weiter geforscht?
Nicht nur ich, auch meine Kollegen. Der Untergang der DDR konnte uns nicht davon abhalten, weiter an einem demokratischen Verständnis des Revolutionsjahrs zu arbeiten - allerdings auf eine, den schwierigeren Verhältnissen gemäße, bescheidenere Weise, waren wir doch zumeist »Abgewickelte«, aus dem offiziellen Wissenschaftsbetrieb Vertriebene. Im Juni 1998 haben wir in einer Konferenz Demokratie und Arbeiterbewegung in der deutschen Revolution 1848/49 erörtert. Es folgten Studien über Liberalismus und Konterrevolution. 1992 gründete sich ein Arbeitskreis »Vormärz- und 1848er Revolutionsforschung«, in dem ich den Hut aufbekam und der sich Anfang des neuen Jahrtausends der ebenfalls auf freier Basis entstandenen Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin anschloss. Aus diesem Gremium alter und jüngerer 1848er-Forscher aus Ost wie West ging dann die Publikationsreihe »Akteure eines Umbruchs« hervor.
Eine einzigartige Edition, auch im Hinblick darauf, dass erstmals gebührend der Frauen der Revolution gedacht ist.
Richtig. In den zwischen 2003 und 2016 erschienenen fünf Bänden sind die widerspruchsvollen Lebenswege von 21 Frauen und 66 Männern nachzulesen - und zwar, ebenfalls einzigartig, von Protagonisten wie Gegnern der Revolution.
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