Widerspenstiger Stichwortgeber

Zum Tod des kanadischen Marxisten Moishe Postone (1942 - 2018)

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.

Dass der Antisemitismus der »Sozialismus der dummen Kerls« sei, ist ein altes Bonmot. Mal wird es August Bebel zugeschrieben, mal Engelbert Pernerstorfer, ein vor dem Ersten Weltkrieg wichtiger österreichischer Sozialdemokrat vom deutschnationalen Flügel. Der aktuell heißeste Kandidat ist indes der Wiener Reformpolitiker Ferdinand Kronawetter, auch er ein Zeitgenosse Bebels.

Der so geschilderte Zusammenhang war damals mit Händen zu greifen: Die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert so rasch wie krisenhaft vollziehende Hochindustrialisierung wurde vom Aufstieg eines neuen Antisemitismus begleitet, der sich von der alten Judenfeindschaft unterschied. Nun schlug den Juden nicht mehr nur religiös verbrämter Hass entgegen, sondern diente das Klischee vom jüdischen Bankier als »Erklärung« für die sozialen Verwerfungen dieses Prozesses.

Ist es erstaunlich, dass diese einstige Binsenweisheit nach dem Holocaust nur vereinzelt - etwa von Max Horkheimer - weiterentwickelt wurde? Erst 1979, nach der Ausstrahlung der TV-Serie »Holocaust« im westdeutschen Fernsehen, wurde die Frage nach dem Wesen der mörderischen Ideologie in der deutschsprachigen Kritik wieder prominenter.

Den Auftakt gab ein kurzer Essay des marxistischen Historikers Moishe Postone in der Frankfurter Zeitschrift »Diskus«. Postone, 1942 als Rabbinersohn in Kanada geboren und 1983 in Frankfurt am Main promoviert, analysierte die tödliche Ideologie in diesem mit »Nationalsozialismus und Antisemitismus« betitelten Text anhand des marxschen Fetischbegriffs.

Jenseits nur sozialpsychologischer Sündenbocktheorien verstand er den Antisemitismus als eine kognitive Deformation. Der fetischisierten Wahrnehmung erscheine »das industrielle Kapital als direkter Nachfolger ›natürlicher‹ handwerklicher Arbeit«. Sie stelle es fälschlich dem »›parasitären‹ Finanzkapital« gegenüber. Die gefährliche Attraktivität des Antisemitismus liege »darin, dass er eine umfassende Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht« - während das Kapitalverhältnis unangetastet bleibt. So sei »ein wesentliches Moment des Nazismus« sein »verkürzter Antikapitalismus«.

Dieser Aufsatz wurde zunächst nur mäßig diskutiert. Seine heute so große Wirkung in der deutschen Linken entfaltete er um 1990. Da avancierte Postone, der längst in Chicago lehrte, in zweierlei Hinsicht zu einem zen᠆tralen Bezugspunkt der »antideutschen« Bewegungsfraktion. Während sein Hauptwerk namens »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx« etwas für Spezialisten blieb, entwickelte sich sein Argument vom »verkürzten Antikapitalismus« hierzulande zu einem allgegenwärtigen Kampfbegriff.

Dies entsprach Postones Intentionen allerdings nicht unbedingt: Als Stichwortgeber war er widerspenstig. Publizistisch dockte der stets sehr bescheiden auftretende Gelehrte eher bei der »Krisis-Gruppe« von Robert Kurz an, dem 2012 verstorbenen Kolumnisten dieser Zeitung. Und die »Occupy«-Proteste von 2011, die in Deutschland unter Berufung auf seinen Text vielfach als »strukturell antisemitisch« angegriffen wurden, hat er verteidigt: Deren Analysen seien »sicher nicht gut«, doch hätten sie Räume der Kritik geöffnet. »Man kann nicht verlangen, dass, wer protestiert, alle drei Bände des ›Kapitals‹ gelesen haben muss«, sagte er 2012 der Zeitschrift »konkret«. Das »linke Sektenwesen« stieß ihn ab.

Der zweite Text, der Postone in Deutschland berühmt machte, ist ein »Offener Brief an die deutsche Linke« von 1985. Darin kritisierte er, dass »Hunderttausende« gegen den US-Imperialismus demonstrierten, aber nur »wenige Hundert« gegen den Handschlag Helmut Kohls und Ronald Reagans auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg, auf dem auch SS-Leute liegen. Das zeige, »wie weitgehend die fundamentale Verdrängung« des Holocaust »im Kern des nachkriegsdeutschen sozialen Bewusstseins die Gegenwart durchdrungen hat«. Etwas anders als im Fall des »verkürzten Antikapitalismus« hat der Anti-Antiimperialismus, der in diesem Text anklingt, Postones Position lebenslang geprägt: Aus dem gemäßigten Antizionisten wurde ein liberaler Interventionist.

Ob ihn die Anschauung der Welt davon noch einmal abgebracht hätte, kann sich nun nicht mehr zeigen. Jetzt wurde bekannt, dass Postone nach schwerer Krankheit verstorben ist.

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