Marx verstehen

Michael Heinrichs groß angelegte Biografie setzt neue Standards

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 8 Min.

Seit die Preußen wieder am Ruder waren, ging es Trier schlechter. Wir schreiben das Jahr 1815, die Stadt an der Mosel steht seit dem Wiener Kongress nicht mehr unter französischer Hoheit. Und die Menschen bekommen das zu spüren. Wo eben noch die Tuchbetriebe für die in Paris dirigierte Armee produziert hatten, brechen nun die Absatzmärkte weg. Den Porzellanmanufakturen und Wolldeckenherstellern geht es ähnlich.

Lokale Produzenten standen seit 1813 ohnehin unter einem neuen Wettbewerbsdruck - mit der Aufhebung der Kontinentalsperre, die den Verkauf englischer Waren auf dem europäischen Festland verhindert hatte, machte sich nun überlegene Konkurrenz in den beiden Industrieregionen in der Umgebung Triers bemerkbar.

Und die Moselwinzer? Die Preußen hatten ihnen 1818 eine Art Monopolstellung verschafft, der Anbau wurde rasch ausgeweitet - doch der Wein wurde davon nicht besser. Es dauerte auch nicht lange, da sorgten neue Zollgesetze dafür, dass süddeutsche Tropfen den Moselwein vom preußischen Markt verdrängten.

»Die Ablösung der französischen Herrschaft durch die preußische hatte erhebliche ökonomische und soziale Folgen«, so beschreibt es Michael Heinrich im demnächst erscheinenden ersten Band seiner Marx-Biografie. Ökonomisch schlug das gewaltig auf das Gewerbe, auf Handwerker, auf Arbeiter und selbst das durch, was man heute Mittelschicht nennen würde. Etwa ein Viertel der Bevölkerung hing von der öffentlichen Fürsorge und privaten Hilfsmaßnahmen ab. Ein »von Anteilsscheinen finanziertes Brotfruchtmagazin« wurde gegründet, »das durch Verkäufe aus einem öffentlichen Magazin die Brotpreise beeinflussen und die Armen versorgen sollte« - auch Heinrich Marx kaufte zwei Anteilsscheine, mehr als die meisten anderen besser gestellten Bürger von Trier.

Die Familie Marx hatte ein Jahreseinkommen von 1500 Talern, sie gehörte damit zu den »oberen zehn Prozent«. Pauperismus und Abstiegsangst waren auch für Heinrichs Sohn Karl durchaus präsent, wenn zu dieser Zeit auch eher aus Anschauung denn eigener Erfahrung. 1825, als Karl sieben Jahre alt ist, wird - unter dem Eindruck der Trierer Verhältnisse - eine der ersten sozialistischen Schriften Deutschlands veröffentlicht: »Was könnte helfen?« hieß der Text von Ludwig Gall, einem Sekretär bei der Bezirksregierung, der von den Ideen des walisischen Unternehmers und Sozialreformers Robert Owen beeinflusst war.

Aufstieg des Kapitalismus, veränderter politischer Rahmen, immer drückendere soziale Verhältnisse, Einwirkung auf das geistige und kulturelle Leben, sozialistisches Denken - was hier auf den ersten Blick wie eine logische Folge aussieht, die auf »den Karl Marx« hinausläuft, ist keine. Und doch lassen sich die Zusammenhänge nicht bestreiten.

Die Sache ist komplexer. Und das erste, was man über Michael Heinrichs auf drei Bände angelegte Biografie sagen darf, ist, dass er mit dieser Komplexität aus Zeitgebundenheit historischer Biografien, Wirkung des Umfeldes auf Lebenswege und späteres Denken am Beispiel von Marx auf eine Weise umgeht, die einen neuen Standard markiert. Es geht um eine Sicht, die »Wirken« und »Rückwirken« von Biografie und zeitgenössischem Umfeld nicht als zeitliche Abfolge versteht, bei der auf die »Prägung« dann das »eigentliche Leben« folgt. Es geschieht vielmehr immer und zugleich. Und das hat Folgen für das Biografieschreiben.

»Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft« - das sind eigentlich drei Bücher in einem. Da wären erstens die einleitenden Kapitel, die sich unter der Überschrift »Warum Marx?« mit der Frage nach dessen Aktualität befassen. Nicht, dass es hierzu an publizistischen Angeboten fehlen würde. Vieles, was dazu gesagt und geschrieben wird, nimmt sich aber im Vergleich zu Heinrichs Anmerkungen banal aus. Es geht ihm nicht nur darum, Anschlussfähigkeit an aktuelle Kritik und Analyse heutiger Verhältnisse zu verteidigen. Sondern darum, dass dieser Anschlussfähigkeit etwas vorausgehen müsste: Marx wirklich zu verstehen.

Dabei geht es Heinrich hier weniger um Werkexegese als um das Wechselverhältnis zwischen seiner Biografie und seinem Denken. Wobei man nicht nur in eine Richtung blicken darf: »Marx war gleichermaßen ein Kind dieses Epochenbruchs«, schreibt Heinrich über den Wandel von vorkapitalistischen und vorbürgerlichen zu kapitalistisch-bürgerlichen Verhältnissen, die Marx erlebte. Er war auch »eine ihrer herausragenden Reflexionsinstanzen«.

Von hier aus führt die Spur zu dem, was man ein zweites Buch im Buch nennen könnte: die Reflexion, die Michael Heinrich sich mit der Arbeit selbst ermöglicht. Die mit seinem Namen verbundenen Debatten um monetäre Werttheorie, das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, seine Kritik am Weltanschauungsmarxismus und seine Einführungen in »Das Kapital« liefen nicht gerade zwingend auch auf eine dreibändige Biografie über Marx hinaus.

Zugleich aber liegt dann doch eine Konsequenz darin: Die theoretische Debatte über das, was man bei Marx liest, muss irgendwann von der Frage, wie er zu verstehen sei, zu einer nächsten überspringen - nämlich: Wie und woraus lässt es sich erklären, dass man Marx so oder so verstehen sollte?

Die Antwort darauf findet sich nicht einfach »in der Biografie«. Aber aus der biografischen Arbeit, die Heinrich hier anstellt, ergeben sich Korrekturen, neue Blickwinkel auf Marx, andere Schlüsse als die bisher gezogenen. Er gebe »gerne zu, dass die jahrelange Arbeit an dieser Biografie zu Veränderungen sowohl meines Bildes von der Person als auch des Werks und der Werkentwicklung geführt hat«, schreibt Heinrich. Und das ist nicht im Sinne einer einmaligen Revision zu lesen, es geht um ein anderes Verständnis von einem Forschungsprozess, der »noch längst nicht abgeschlossen« ist.

Vor allem mit der laufenden Edition der MEGA, in der alle bekannten Manuskripte, Vorarbeiten, Skizzen von Marx und Engels historisch-kritisch aufbereitet werden, haben sich die Bedingungen dieses Forschungsprozesses verändert. Was dabei sichtbar geworden ist: ein unfertiger Marx, einer, dessen kritisches Denken immer in Bewegung war, das Brüche erlebte, sich Neuem zuwandte, was dann wiederum zurückwirkte auf das Denken, es so abermals in Bewegung setzte, worauf sich auch die politische Praxis von Marx wieder veränderte, auch seine Forschungsvorhaben. Und so fortan.

Damit sind wir beim »dritten Buch« im Buch - Heinrichs »Methodik einer Marx-Biografie«. Hier wird nicht nur eine kurze Biografie der Biografik erzählt, sondern es werden aus dieser auch Konsequenzen für das eigene Buch gezogen. Heinrich legt nicht nur die Instrumente offen, mit denen er »seinen Marx« geschrieben hat.

Will sich biografisches Schreiben nicht auf die Nacherzählung eines Lebens beschränken, also auf eine Illustration ex post, braucht man dafür einen theoretischen Rahmen. Dabei geht es nicht bloß um die Quellen, aus denen Biografien schöpfen sollten. Heinrich ist hier der faktenhuberische Kritiker, als den man ihn auch aus theoretischen Kontroversen kennt - die rund 30 größeren Publikationen über Marx’ Leben, die bisher erschienen sind, bekommen in »Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft« durchaus ihr Fett weg.

Aber Heinrich macht mehr noch die Perspektive des Schreibens selbst zum Thema. »Jede Biografie erhält bereits dadurch einen konstruktiven, von der Perspektive des Biografen abhängigen Charakter.« Hieraus ergibt sich ein Rahmen, der nicht zwingend bewusst ist, der aber bewusst gemacht werden kann. Die in einer Biografie getroffenen Einschätzungen sind selbst ja schon Resultate - zum Beispiel »einer bestimmten Verarbeitung der Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte«.

Mit dem im Hinterkopf, was Heinrich über die Probleme schreibt, die Biografien zu Entwicklungsromanen werden lassen, zu bloßen Bestätigungen bereits feststehender Urteile oder zu personalen Überhöhungen in politischer Absicht, wird man auch andere Biografien anders lesen.

Kommt man so aber nicht letzten Endes dahin, die Unmöglichkeit einer Biografie erklären zu müssen, die von sich behaupten könnte, »den Marx, so wie er war«, zu beschrieben? Genau. »Wir können aus dem Überlieferungsgeschehen nicht hinausspringen«, schreibt Heinrich, »aber wir verändern es und schaffen dadurch neue Bedingungen, unter denen künftiges Verstehen stattfindet.«

Von der Art der literarischen Anlage her kann man sich an die weite Perspektive und die erzählerische Verknüpfung erinnert fühlen, mit der die Globalgeschichtsschreibung zur Innovation der Historiografie wurde, ganz neue Blicke und Erkenntnis eben dadurch ermöglichend, dass Dinge in einen Zusammenhang gebracht werden, die bisher eher unverbunden in der Forschungslandschaft herumstanden.

Der erste Band von »Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft« nimmt die Jugendzeit, seine dichterischen Gehversuche, die Berliner Juristerei und seinen Übergang zur Beschäftigung mit der Hegelschen Philosophie in den Blick, auch das familiäre und private Umfeld, die Religionskritik, Marx’ Freundschaft mit Bruno Bauer, die Dissertation in Jena. Heinrich erzählt hier nicht bloß »die Geschichte«, es ist mehr als ein Buch über Marx’ frühe Jahre, es ist die Geschichte einer Epoche, ihres Denkens, der gesellschaftlichen Verhältnisse.

»Jede Generation wird unter den historisch veränderten Umständen eine neue Perspektive auf Leben und Werk von Marx entwickeln«, so Heinrich. Das mag schon sein, aber bis dahin warten wir auf die beiden folgenden, für 2020 und 2022 angekündigten Bände. Wenn Heinrich so wie im ersten weitermacht, könnten es auch mehr werden.

Michael Heinrich: Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft. Band 1. 1818-1841. Schmetterling Verlag Stuttgart, 422 Seiten, 29,80 Euro. Ab 28. April im Buchhandel.

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