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Gericht und Schönheit

Die Berliner Volksbühne und die Lehre der Scherben

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Da ist ein Systemwechsel gründlich misslungen. Jetzt könnte die Zeit, die sehr drängt, wieder untragbar lang werden, denn: So viele Trümmer sind zu schleppen. Und wer schleppt dann - auf lastend leerem Feld - die rettende Idee heran? Die Berliner Volksbühne steht im Beben eines Elends. Das naturgemäß nicht ausbleiben kann, wo Unversöhnlichkeit gehämmert wurden.

Der Global Player Chris Dercon war Duft der weiten Welt, Frank Castorf Stallgeruch. Elegante Koalitionsästhetik stand gegen Spielarten des Ungefügen, weltbürgerliche Vernetzungsethik gegen bewusst gelebten Separatismus. Ein Tanker, umgerüstet zur Boutique? Keine titanische, eher eine Titanic-Idee - am Fuße vom Prenzlauer Eisberg.

So klar gekantet war das also. Die Volksbühne eine Trutzburg: gegen das Neubaugebiet jener modernen Schickeria, die weiter oben am Kollwitz-Platz kokett und verliebt am Schmutz der Altzeit schnüffelt - um es unaufhaltsam tot-, also schönzusanieren. Dercon passte genau in diese Einbruchspraxis und deren neue Front-Stadtphantasien. So konnte er mühelos zur Projektionsgestalt für Hass und Abwehr werden, im berechtigten Protest gegen eine unsensible Übernahme keimten sofort auch selbstgerechter Proletkult und ein kulturloses Elitebashing.

Wer die Ära Castorf verteidigte, diese genialste Apparatur im derzeitigen deutschen Bühnenbetrieb, der fühlte sich links. Noch linker wähnten sich wohl jene, die im Sturm gegen Dercon einen Aufruf sahen, überhaupt alle Kunst jenseits der sozialen Sphären zu überrollen. Und jene dünnhäutigen Seufzer vom Dienst, süchtig nach jedem Anlass, wiederholten dank der Volksbühnen-Misere mal wieder ihre lieb gewonnenen Allround-Abgesänge, ohne die sie nicht durch den Tag kommen. In der »Zeit« schreibt Publizist Robin Detje von einem »Wahn, der sich nur aus der allgemeinen Stimmung im Land erklären lässt, aus dem neuen Hang zur Ehrerbietung gegenüber ›gewachsenen Strukturen‹, aus einer tiefen Angst vor Veränderung, die alles zum Mahnmal eines Konservativismus von links oder rechts macht - ob nun Castorfs Räuberrad, ein Gedicht von Eugen Gomringer oder das heilige deutsche Theatersystem«.

Freilich: Castorfs sehr spezielles Reich ist aus der Metropole gerissen worden, als absolviere die hauptstädtische Kulturpolitik ein Casting für die nächste Staffel der BER-Farce. Imponierend, wie angesichts dessen der Linkenpolitiker Klaus Lederer manövrierte. Als neu bestallter Kultursenator war er bei der Causa Dercon in ein laufendes Verfahren geraten. Offene Leidenschaft für Castorf verführte ihn zu frohem Glauben: Die von Beginn an umschatteten Entscheidungen um den Belgier könnten rückgängig gemacht werden. Erfahrung aber nahm ihn zur Seite, zeigte ihm die Verträge, beriet ihn mit Praxissinn. Lederer steigerte sich zu einem Diplomaten des Maßvollen, der seine Grunddistanz zu Dercon nie in verhandlerische, verwalterische Unfairness auswuchern ließ. Unmissverständlich stellte er sich vor den Belgier, wo diesen fortwährend »anonyme Angriffe und Invektiven unter der Gürtellinie« trafen.

Eine Kette von Jämmerlichkeiten sorgte für den Austrieb Dercons. Aber es bleiben Fragen, die mit einem mokant-arroganten Verweis auf dessen Seidenglanzgemüt nicht erledigt sind. Um diese Fragen - so oder so - zu beantworten, gibt es kein Reservat, sie müssen - wie überall in der Gesellschaft - genau dort gestellt werden, wo es reinhaut, wehtut. Die Volksbühne war dafür der falscheste Ort, also der richtige, und es schließt sich in dieser Sache ein bezeichnender Kreis: Matthias Lilienthal, führender programmatischer Kopf der ersten Castorf-Jahre an der Volksbühne, wird 2020 die Münchner Kammerspiele verlassen müssen, weil sein performatives, Kunstsparten kombinierendes, roh urbanes Programm - nach Obrigkeitsbescheid - nicht in die mondäne Maximilianstraße passt. So wie Dercons kuratorischer Theateransatz nicht an den Rosa-Luxemburg-Platz passte? Lilienthal, der Plebejische, und Dercon, der Großbürgerliche, sind befreundet, sind Brüder im Geiste. Es ist jener Geist, so Thomas Oberender, Chef der Berliner Festspiele, »der Aufführungen aus original produzierenden Kontexten - so nenne ich die Stadt- und Staatstheaterstruktur - und kooperativ arbeitende Theaterstrukturen verbindet. Bestände werden auf ganz neue Weise geprüft.«

Plötzlich fallen mir Kleinigkeiten ein. Etwa Dercons Postulat: »Sich ins Detail versenken. Das Gesamte vom kleinsten Teil denken. Lauschen. Flüstern. Klein werden. Raus aus dem Totalzusammenhang. Kommt zusammen!« Belacht und behämt von den Kritikern. Aber bleibt nicht auch dies bedenkenswert? Leute können einen doch mächtig nerven, wenn sie ständig nur aus dem Gesamtzusammenhang kommen wie aus der Tür eines Großgrundbesitzes. Die Durchblickschnösel. Die Großkreisschläger. Wie Seilschaften hängen sie an ihrem Zusammen-Hang. Aber vielleicht liegt doch in Aufkündigungen mitunter mehr Wahrheit als der Daueraufenthalt in wichtiggeraunten Geschichtsräumen.

Wenn Klaus Lederer jetzt betont, »die Volksbühne als Ensemble- und Repertoiretheater zurück ans Netz zu bringen«, so ist das ein hoch ehrenwerter Anspruch und eine Beschwörung eines neu zu gründenden Eigensinns von Stadt-Theater - gegen die einebnende Universalität des überall Gleichen, gegen Ästhetiken, die überall passen, weil sie nirgends passen, und die anscheinend alle meinen und niemanden betreffen. Aber dass Dercon - leider äußerst blass und konturenlos! - mit anderen Szenerien und Szenarien experimentieren wollte, hat seinen Grund im rücksichtslosen Wanken vieler Dinge. Ensembletheater? Immer mehr Menschen flottieren frei, ob nun notgedrungen oder aus Freiheitsdrang. Schwinden Bindungskräfte? Mit welchen Folgen? Der fortschreitenden Trennung zwischen Frei und Fest? Wird im Denken dann alles fließender, lockerer? Flüchtiger auch? Gewiss, und also Vorsicht: Jeglicher Lust auf kooperierende Kulturen, so noch einmal Oberender, stehen »Gefahren der Innovationshysterie« gegenüber. Wie überall.

Die Gleichniskraft der Volksbühnenfrage: Auch gesellschaftlich geht es um Befreundungen mit einer (politischen) Kultur, die an viele Zustände Fragen stellt - ohne den Grund in Frage zu stellen, auf dem wir leben. Es werden Helden eines Rückzugs benötigt, der doch ein Vormarsch wäre: voneinander lernen, im anderen, im schier Verfeindeten sich selber sehen. Differenz ertragen, sie als Ertrag für sich buchen. Und somit davon absehen, das Neue nur immer in vorgeprägten Formen begreifen zu wollen. Wenn es kein inneres Erleben mehr gibt zwischen Meinendem und Gegenmeinendem, zwischen Kultur und Gegenkultur, dann grassiert der Lagergeist, denn alle Argumente bleiben unter sich. Bis zum nächsten Schock durch Unvorhergesehenes. Terrorakt. Wirtschaftskatastrophe. Flüchtlinge. Wahlergebnis. Intendant.

Radikalität heute: Offen die Strukturen befragen, bis die sprengende Idee kommt. Sprengungen aber ohne Extremismus. Denn was den überraschenden Koalitionen des Geistes immer im Wege steht, ist der zähe Gesinnungs- und Gewöhnungsfaktor, dies hemmende Enzym. Theater ist dabei nicht Vorhut, es ist ein Spiegel. Fortwährend zerscherben sie - die Spiegel, in denen wir uns reibungsloser sehen wollen, als wir sind. John Cage: »Das Schöne an gebrochenem Glas ist dieser Lichtreflex, wenn es springt.«

Traurigerweise ist an der Volksbühne etwas Großes zerschlagen worden. Scherbengericht, Scherbenschönheit. Beobachter der jüngsten Sitzung des Berliner Kulturausschusses berichten von leisen Tönen, sogar von Demut ging die Rede - als sei man in der Runde überrascht von so etwas wie einem tastenden Gemeinsinn. Klaus Dörr, Interims-Chef der Volksbühne, strahlt - wie immer, darf man sagen - Glaubwürdigkeit und Fieberresistenz aus. Christoph Schlingensief war es, der am Hause plakatierte: »Scheitern als Chance!« Eine aufmunternd gut klingende Phrase. Neuerliche Systemwechsel fangen gern so an.

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