Gradmesser für das Vertrauen

Erste Kommunalwahlen im neuen Tunesien / 48 Prozent der Kandidaten sind Frauen

  • Claudia Altmann, Algier
  • Lesedauer: 3 Min.

Fünf Millionen Wahlberechtigte können darüber entscheiden, wer künftig die Geschicke in den 350 Städte- und Gemeinderäten lenken wird. Nach dem Volksaufstand 2011 waren diese aufgelöst und provisorisch besetzt worden. Seitdem funktioniert die Verwaltung mehr schlecht als recht. Nachdem die Wahl mehrmals verschoben wurde, soll der demokratische Prozess jetzt bis ins letzte Dorf gebracht werden. Dafür haben sich Kandidaten auf 888 Parteilisten, 78 Koalitionslisten und 615 Listen Unabhängiger registrieren lassen.

Die meisten Bewerber gehen für die beiden größten Parteien des Landes ins Rennen, die säkular-nationalistische Nida Tunis, die auch im Parlament die Mehrheit stellt, sowie die islamistische En-Nahdha. Nach Angaben der unabhängigen Wahlbehörde sind 75 Prozent der Kandidaten jünger als 45 Jahre, mehr als die Hälfte unter 35. Aber das ist nicht das einzige Novum. 48 Prozent der Kandidaten sind weiblich, was bisher einmalig in der arabischen Welt ist. Dieser hohe Frauenanteil wird nicht zuletzt dadurch gefördert, dass die 2014 verabschiedete neue Verfassung die Gleichstellung von Frau und Mann garantieren soll und eine paritätische Vertretung in den Volksvertretungen angestrebt wird.

Die Wahlen finden in einem sozial extrem angespannten Klima statt. Anfang des Jahres hatten sich die aufgestaute Wut und die Enttäuschung über sieben Jahre vergebliches Hoffen landesweit in teils gewalttätigen Demonstrationen Luft gemacht. Auslöser waren Preissteigerungen für Diesel, Lebensmittel und Telefonkosten bei einem gleichbleibenden Mindestlohn von umgerechnet 111 Euro. Die Inflation hat mit 7,2 Prozent ein Rekordhoch erreicht. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 15 Prozent. Daher flüchten sich immer mehr Menschen in den informellen Sektor.

Im Landesinneren ist selbst das ein Problem. Den bisherigen Regierungen ist es nicht gelungen, effektiv gegen die Marginalisierung dieser Regionen vorzugehen. Das betrifft auch Sidi Bouzid, die Stadt in der im Dezember 2010 der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi durch seine Selbstverbrennung die Revolten in mehreren arabischen Ländern ausgelöst hatte.

Zwar profitierten die 50 000 Einwohner der 300 Kilometer von der Hauptstadt Tunis entlegenen Stadt von einem Förderbudget von umgerechnet vier Millionen Euro. Es wurden Einkaufszentren gebaut, ein Krankenhaus sowie ein Sportzentrum und ein Stadtbad stehen kurz vor der Eröffnung. Aber was nach wie vor fehlt, sind Arbeitsplätze vor allem für die jungen Einwohner. Während die bisherigen Investitionen an ihren Bedürfnissen vorbeigehen, hat sie indes das Wahlversprechen von En-Nahdha-Chef Rachid Ghannouchi aufhorchen lassen. Er kündigte an, dass überall dort, wo seine Partei als Siegerin aus dem Urnengang hervorgeht, kostenloses Hochleistungsinternet eingeführt werden soll.

Während des Wahlkampfes hat die Partei noch mit einer weiteren Überraschung auf sich aufmerksam gemacht. In der Küstenstadt Monastir steht ein jüdischer Kandidat auf ihrer Liste. Die Partei will damit ein Zeichen der Öffnung setzen und sich als demokratisch-islamistisch präsentieren. Monastir ist die Geburtsstadt von Staatsgründer Habib Bourguiba und gilt als politisches Zentrum Tunesiens, so dass hier der Wahlausgang mit besonderer Spannung erwartet wird.

Die große Unbekannte landesweit ist indessen die Wahlbeteiligung. Letzte Umfragen lassen nicht mehr als 20 Prozent erwarten. Die Wahlbeteiligung der Sicherheitskräfte, die bereits am Sonntag ihre Stimmen abgegeben haben, scheint diese Prognose zu untermauern.

In jedem Fall wird die Abstimmung ein wichtiger Gradmesser für das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Parteien, denn im kommenden Jahr stehen in Tunesien Parlaments- und Präsidentenwahlen an.

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