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Die ganze Geschichte von G20 erzählen

Der Dokumentarfilm »Hamburger Gitter« ist eine Abrechnung mit dem Sicherheitsstaat nach G20

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 5 Min.

»Ich hatte echt Schiss, dass die mich umlegen.« Leo Castro wirkt gefasst, als er Monate später über die Ereignisse im vergangenen Sommer spricht. Wie viele tausende Menschen war der Aktivist Anfang Juli nach Hamburg gereist, um gegen den G20-Gipfel zu protestieren. Dort wurde er von Polizist*innen schwer misshandelt. Die Schilderungen von Castro sind eine der eindringlichsten Szenen in einem neuen Dokumentarfilm über G20.

Auch ein Jahr danach reißt die Debatte über die Proteste nicht ab. Was ist genau in der Hansestadt passiert? Wer trägt die Schuld an der Eskalation? Wie prägt der G20-Gipfel aktuelle Diskussionen über Sicherheit? Der Dokumentarfilm »Hamburger Gitter« des linken Videokollektivs leftvision soll helfen, Licht ins Dunkel zu bringen.

leftvision steht für aktivistischen Journalismus. Seit 2009 filmt das Kollektiv dort, wo das linke Herz schlägt: bei Mieterprotesten, Klimacamps, Antifa-Demos. In Hamburg war leftvision mit 13 Kameraleuten unterwegs – und fast immer dort, wo es zur Sache ging. »Mein Arm hat noch eine Woche später weh getan«, erinnert sich Marco Heinig, einer von vier Filmemacher*innen. Mehrmals schwingen Polizeiknüppel auf die Kamera zu – und geben den Zuschauer*innen den Eindruck, mittendrin zu sein.

Hamburger Gitter (official trailer) Der G20 Gipfel als Schaufenster moderner Polizeiarbeit

Aus Hunderten Stunden Filmmaterial und 17 Interviews wurde ein 76-minütiger Dokumentarfilm, der am Donnerstag Premiere feiert. Auch nd-Videojournalist Jan Brock hat einige Aufnahmen zu dem Film beigesteuert. Neben vielen bisher unveröffentlichten Aufnahmen von Protesten, kommen Journalist*innen, Aktivist*innen, Politiker*innen, Anwält*innen, Wissenschaftler*innen und Betroffene von Polizeigewalt zu Wort. Der junge Italiener Fabio, der fast fünf Monate in Untersuchungshaft saß, äußert sich, ebenso wie die damalige nd-Redakteurin Elsa Koester, der ihre Presseakkreditierung entzogen wurde. Schicke Drohnenbilder der Hansestadt sorgen für kurze Verschnaufpausen zwischen den scharfen Analysen und teils brutalen Aufnahmen.

Doch warum erscheint die Doku erst ein Jahr nach G20? Eigentlich war überhaupt kein längerer Film geplant, meint Heinig. Dann wurde im Dezember damit begonnen, öffentlich nach vermeintlichen Straftätern zu suchen, Demonstrant*innen wurden mit drakonischen Strafen überzogen, Häuser von Aktivist*innen durchsucht. Der Ruf nach Law and Order übertönte vielmals die kritischen Stimmen. Der populistischen Mobilmachung und Umdeutung der Ereignisse wollten die Videoaktivist*innen mit ihren Mittel etwas entgegenstellen. Die Idee: Ein Langfilm, der die ganze Geschichte erzählt.

Und die in der Doku geäußerte Kritik hat es in sich: So wird etwa von »bewusster Eskalation« und »gezieltem Versagen« gesprochen. Die Gipfeltage werden genau nachgezeichnet: Von der gewaltsamen Auflösung der »Welcome to Hell«-Demonstration über die brutalen Festnahmen am Rondenbarg, Misshandlungen in der Gefangenensammeleinrichtung bis hin zum paramilitärischen SEK-Einsatz im Schanzenviertel. Die Aufnahmen der massiven Polizeigewalt gehen unter die Haut – und sind ein filmischer Widerspruch zum Narrativ, dass es keine Polizeigewalt gegeben habe.

Der Film gibt aber nicht einfach nur die Ereignisse während des G20-Gipfels wieder, sondern bettet sie geschickt in die aktuellen Debatten über Sicherheit, polizeiliche Aufrüstung und Kriminalisierung von linkem Aktivismus ein. Heinig meint: »Wir wollten nicht einfach nur die Gipfeltage aufarbeiten, sondern uns die ganze Choreographie von einem Jahr anschauen.« Denn: »G20 war viel mehr als nur die Protesttage«. Passenderweise lautet der Untertitel der Doku: »Der G20 Gipfel als Schaufenster moderner Polizeiarbeit«.

Die Gegenstimme zum einheilig vernichtenden Urteil an dem größten Polizeieinsatz der deutschen Geschichte kommt vom Polizeisprecher Timo Zill. Sein Credo, dass die Polizei »im großen und ganzen einen guten Job« gemacht habe, wird von den vielen kritischen Stimmen widerlegt. Aber ist die Wahl der Interviewpartner*innen nicht zu einseitig? »Wir haben wochenlang versucht, Polizist*innen aus Hundertschaften vor die Kamera zu bekommen. Niemand wollte sprechen - auch nicht anonymisiert.«

Der Film wurde ehrenamtlich und ohne Profitinteressen produziert. Heinig meint: »Jetzt hoffen wir, dass wir die Kosten wieder reinbekommen.« Das Interesse an dem Film ist jedenfalls groß: Zehntausende haben bereits den Trailer im Internet gesehen, viele Kinos ihr Interesse bekundet.

Am Donnerstag soll der Film dort zum ersten Mal gezeigt werden, wo die Geschichte ihren Anfang nahm – in Hamburg auf der Straße. Die offizielle Premiere folgt am Freitag im altehrwürdigen Kino International in Berlin. Danach wird der Film für mehrere Monate in Programmkinos in ganz Deutschland zu sehen sein, bevor er ab Herbst auch online verfügbar sein wird. Aber warum erscheint »Hamburger Gitter« eigentlich nicht direkt im Internet? »Mit dem Kino kann man nochmal ganz andere Menschen erreichen und andere Diskussionen auslösen«, erklärt Heinig. Die Devise: Raus aus der linken Blase, rein in den Mainstream. Die Debatte soll breit geführt werden, denn: G20 stelle einen Wendepunkt der deutschen Sicherheitspolitik dar – und der Diskurs soll nicht den Scharfmachern aus Politik und Polizei überlassen werden.

Alle Kinotermine und weitere Informationen hier.

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