Marburgs Uni war gar nicht so rot

Bild wurde geprägt vom marxistischen Hochschullehrer Wolfgang Abendroth

  • Stefanie Walter, Marburg
  • Lesedauer: 4 Min.

In der Fensterauslage der Buchhandlung Roter Stern in Marburg liegen Rudi Dutschkes »Geschichte ist machbar«, Ulrike Meinhofs »Bambule«, Peter Brückners »Ungehorsam als Tugend«. Im Laden blättern ein paar Kunden in aktuellen Bestsellerromanen. Die kleine Marburger Buchhandlung, eröffnet im Herbst 1969, wird von einem Kollektiv aus elf Mitgliedern betrieben. »Das ›linke Lesen‹ hat sich bis heute in Marburg gehalten«, sagt der Chefdramaturg des Marburger Theaters, Franz Burkhard.

Burkhard hat in diesem Jahr eine gut besuchte Theaterrevue »50 Jahre 1968« über den Höhepunkt der Studenten- und Bürgerrechtsbewegung gemacht. Jetzt sitzt er im Foyer der Stadthalle, in seinem Rücken ein paar bunte Wandtafeln. Wolfgang Hecker, Politikwissenschaftler und in den Jahren um 1968 eine wichtige Figur in Marburgs Studentenbewegung, hat die kleine Ausstellung zusammengestellt. Es geht um die Zeit, in der Marburg oft in einem Atemzug mit Berlin und Frankfurt genannt wurde.

Damals entstand das Bild der »roten« Universität Marburg, es hält sich bis heute. Geprägt hat es der marxistische Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth (1906-1985) der ab 1951 in Marburg lehrte. Abendroth war eigentlich Jurist. »Aber die juristische Fakultät in Marburg wollte ihn nicht«, erinnert sich Hecker.

Eine »rechte« Uni sei Marburg damals gewesen. Der Soziologe Jürgen Habermas bezeichnete daher Abendroth als »Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer«. Habermas habilitierte sich 1961 in Marburg bei Abendroth mit seinem Standardwerk »Strukturwandel der Öffentlichkeit«.

Das Besondere an Marburg war die Person Abendroth, sagt auch der Theologe und Philosoph Joachim Kahl, der als »freiberuflicher Philosoph« in Marburg lebt. Abendroth sei ein sehr bescheidener Mann gewesen, dessen Name aber »allpräsent« war. Kahl arbeitete damals an seiner Promotion in evangelischer Theologie, haderte aber mit der Kirche und fragte Abendroth um Rat. Einmal suchte er ihn in seiner Sprechstunde auf: »Abendroth lag auf der Couch, war aber gesprächsbereit.«

Der charismatische Professor litt Kahl zufolge unter einer plötzlichen Sprachstörung, die ihn auch in seinen Vorlesungen befallen konnte. Als Angehöriger von Hitlers berüchtigtem Strafbataillon 999 war er möglicherweise verwundet oder gefoltert worden. Sein Widerstand gegen die Nazis machte den Sozialisten zu einer glaubwürdigen Identifikationsfigur.

Dass Marburg neben Berlin und Frankfurt als Hochburg der Studentenbewegung erschien, lag an der »fundierten theoretischen Arbeit« durch drei marxistische Hochschullehrer, sagt Kahl. Neben Abendroth seien das die Soziologen Heinz Maus und Werner Hofmann gewesen. »Marburg war als dogmatisch verschrien«, die Abendroth-Schule sei »DDR-orientiert« gewesen, kritisiert Kahl heute. Die Kleinheit der Stadt habe dafür gesorgt, dass eine »ideologische Dunstglocke« entstanden sei.

Abendroth riet Kahl, sein Theologiestudium zu Ende zu bringen. Das tat er, um direkt nach der Promotion aus der Kirche auszutreten - ein Skandal. Im November 1968 erschien Kahls Buch »Das Elend des Christentums«. Es wurde ein Bestseller.

Wolfgang Hecker führt durch seine kleine Ausstellung; er deutet auf ein Foto. »Nach einem Teach-In zogen die Studenten in Gruppen durch die Stadt, um mit den Leuten zu reden. Aber die Bevölkerung wollte nichts davon wissen.« Die 68er Revolution sei in Marburg ausgesprochen provinziell verlaufen. Es habe jedoch einen »Abendroth-Effekt« gegeben: »Abendroth war ein Einzelkämpfer in der Professorenschaft. Aber es kamen gezielt Leute nach Marburg, um bei ihm zu studieren.«

Die Sogwirkung Abendroths führte 1970 zu einem »Generationswechsel« in der Studentenschaft, und da erst entstand das Bild des »roten« Marburgs, erklärt der Marburger Konfliktforscher Thorsten Bonacker. »1968 war Marburg keinesfalls rot.« Im April 1968 verfassten 35 Professoren ein »Marburger Manifest« gegen die »Demokratisierung der Universität«; 1500 konservative Hochschullehrer aus der ganzen Bundesrepublik schlossen sich an.

Es sei damals - wie heute noch - eine kleine, enge, konservative, bürgerliche Stadt gewesen, geprägt von einer »aktiven Burschenschaftsszene«, aber mit einer »sehr aufmüpfigen Studentenschaft«, so Bonacker. »Um hier Empörung zu provozieren, brauchte es nicht viel.« Diese Ausstrahlung von 1968 wirke immer noch nach, Marburg sei keine Regional-Uni, sondern für Studenten aus ganz Deutschland attraktiv. »Die 68er wurden Lehrer und schwärmten von ihrer Zeit in Marburg«, sagt Bonacker.

Abendroth verließ 1972 Marburg und lebte bis zu seinem Tod 1985 in Frankfurt. Seine Studenten gingen unterschiedliche Wege. Ein Teil ging in die SPD - so hatte der spätere hessische Ministerpräsident und Bundesfinanzminister Hans Eichel bei Abendroth studiert. Andere tendierten in Richtung Deutsche Kommunistische Partei, auch Hecker. Der blieb als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni, erhielt als DKP-Mitglied aber vier Jahre lang Berufsverbot. »Typisch für Marburg war: dass der rechte Pol dominant und der linke Pol klein war«, analysiert der Politikwissenschaftler. »Das wird heute genau andersherum wahrgenommen.« epd/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -