Auf dem Grunde des Lebens
Warum muss ausgerechnet ich in Armut leben? »Auf der Straße« am Berliner Ensemble
Mit dem Projekt »Auf der Straße« eröffnete das Berliner Ensemble die neue Spielzeit, in der die Gegenwart im Zentrum stehen soll. Es geht um den Themenkomplex Armut und Obdachlosigkeit. Hochaktuell angesichts der Verdoppelung der Obdachlosenzahl und der Bilder vom Massenandrang bei Wohnraumbesichtigungen, die man immer öfter sehen kann.
»Auf dem Grunde des Lebens« nannte Maxim Gorki sein Stück »Nachtasyl« im Untertitel. Auf dem Grunde des Lebens sind auch die Figuren in »Auf der Straße« angekommen. Bedenkenswerte Schicksale kommen zur Sprache. Das von der alleinerziehenden Mutter, die ihre Scham überwindet und sich in der Bekleidungskammer und bei der Tafel versorgt, die ständig Blutplasma spendet und nur einmal am Tag isst, um beispielsweise ihrer Tochter eine Kinokarte bezahlen zu können. Oder das vom Obdachlosen, der von den wechselnden Partnern seiner Mutter misshandelt worden ist, der im Heim landet, von dort zur Mutter zurückzufliehen versucht und von der abgewiesen wird.
Harte Tatsachen werden ans Licht gezerrt. Ein verwahrloster Obdachloser ist am ganzen Körper mit verhärtetem Kot bedeckt und muss aus der Hose herausgeschnitten werden, ein anderer »Wohnungssuchender« schläft in einem Erdloch, betrinkt sich täglich und erscheint doch allmorgendlich zur Arbeit - bis er eines Tages zusammenbricht und auch im Krankenhaus nicht mehr zu retten ist. Karen Breezes Inszenierung, in der Schauspieler des Hauses mit Betroffen zusammen agieren, wird eingeleitet mit Texten des altgriechischen Lyrikers und Staatsmannes Solon, der zu den Begründern der griechischen Demokratie zählt. Er preist die Gesetzlichkeit und verflucht Gier und Machtstreben. Da ist das Thema angesprochen: Armut und Not als Folge von Gewinnstreben der Mächtigen.
»Warum muss ich in Armut leben?« - in einem der reichsten Länder Welt fragt eine Alleinerziehende, die Mühe hat, sich mit ihrem Kind durchzuschlagen. Bettina Hoppe spricht diesen Text mit sichtbarer Mühe, sich zu beherrschen. Nur bei der Textstelle von der Gier lässt sie ihren Gefühlen freien Lauf. Dann folgt ein Licht- und Perspektivwechsel. Im Hintergrund dreht sich im gleißenden Licht ein Karussell mit verschiedenen Sitzflächen und einem Boden aus Aluminium. Es ertönen Ausschnitte von Berichten vom Alltag der Obdachlosen, von den besten Stellen zum Schnorren und Flaschensammeln. Da ist kein Jammern, kein Beklagen in diesen Berichten, eher eine routinemäßige Gelassenheit. Wenn zum Beispiel Chris dem Helfer vorführt wie er sein Nachtlager herrichtet - da hat er das Selbstbewusstsein eines Bettenbauingenieurs. Auch in den meisten Spielszenen fließen keine Tränen. Die ehemalige Studentin Alexandra, die keine Arbeit als Lektorin gefunden hat, lacht über ihre damalige »Pubertantenlyrik« und hält frohgemut an ihrem Traum von der 4-Zimmer-Altbauwohnung fest.
Auch bei Psy, dem verstoßenen ehemaligen Heimkind keine Rührseligkeit. In kurzen Satzfetzen erzählt er, ungerührt, zu großen Schmerzbekundungen nicht mehr fähig. Ganz am Ende, keiner hätte es noch für möglich gehalten, ist da ein neuer Ton, eine neue Haltung. Neu anfangen will er und seinen Kumpel aus dem Zelt gleich mitnehmen. Die beiden Schauspieler des Hauses, Bettina Hoppe und Nico Holonics, begleiten und ergänzen behutsam diese Erfahrungsberichte. Bettina Hoppe spricht Dinge aus, die die Betroffenen nicht mehr auszusprechen in der Lage sind, Nico Holonics assistiert, in dem er kleine Rollen übernimmt und die Gegenspieler der Berichtenden darstellt: den Heimleiter, der Psy herausgeschmissen hat, den Polizisten, der ihn nicht geschützt hat oder den Wohnungsvermieter, der die Bewerber gnadenlos aussortiert. Beide Schauspieler bleiben auch in Einzelszenen in Erinnerung. Bettina Hoppe als die Alleinerziehende, die sich in der Szene an der Tafel mit modischer Kleidung schmückt, um nicht als Notleidende erkannt zu werden und die sich in eine Wutrede hineinsteigert, weil sie sich als Alleinerziehende diffamiert sieht.
Zum Höhepunkt des ganzen Abends spannt sie sich wütend vor das Karussell und lässt ihre Wut am toten Gegenstand aus. Nico Holonics zeigt ein Kabinettstückchen, wenn er sich als verlogener Provinzpolitiker anbiedert, wenn er wie in einem Selbstdarstellungsrausch über die fahrenden Tische und Bänke geht und letztlich doch seine Abscheu gegenüber den Armen zeigt. Eine unnötige Zutat ist es, wenn am Schluss ein Ehepaar aus der Oberschicht auf einem Videofilm Respekt und Achtung vor den Obdachlosen heuchelt. Insgesamt eine Inszenierung, die auf besondere Weise eine aus den Fugen geratene Welt auf die Bühne bringt, die viel mehr ist als eine sozialtherapeutische Maßnahme.
Nächste Aufführungen: 20., 21., 25. September, jeweils 20 Uhr
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