Kommunismus als Flaschenpost

Der Verbrecher-Verlag hat Ronald M. Schernikaus »legende« neu herausgebracht

  • Jasper Nicolaisen
  • Lesedauer: 7 Min.

Eine Freundin aus Leipzig schickt mir ein Foto von Ronald Schernikau. Ich erinnere mich sofort an die Spaziergänge in Leipzig mit Nutriasichtung am Heinekanal. Ich suche ein Foto von einem Nutria raus und schicke es ihr mit der Bemerkung: Schernikau und der süße Nager, bei der Geburt getrennt.

Tatsächlich, Schernikau ist ein schöner Mann, obwohl er nicht schön sein dürfte. Die Haare! Die Brille! Die Nase! Aus heutigen schwulen Zusammenhängen würde er sofort rausgeworfen, weil er keineswegs im Fitnessstudio war, um schrankförmig zu werden. Er ist einfach nur ein schöner Mann, wie er gelegentlich vorkommt. Allerdings, wenn man ihn in der Talkshow »Club 2« reden sieht auf YouTube, diese Normcore-Optik, das ging schon wieder. Haarwelle seidig, die Brille ganz groß und funkelnd, verschlungene Beine. Aus heutigen lesbischen Zusammenhängen würde er sofort rausgeworfen, so irritierend nichtbinär in in dieser Optik als schneidende Feministin.

Was, Seehofersakra noch mal, sind denn das für Zeiten, wo in einer sozialistischen Zeitung über einen kommunistischen Schriftsteller, der hoch erhobenen Hauptes noch kurz vor Ladenschluss aus der BRD in die DDR einwanderte, einzig und allein Modediskussionen zu lesen stehen und so schwule Sachen?

Schernikau kann sich dazu nicht mehr äußern, er ist jung verstorben, und musste, wie er selbst sagte, mit der »legende« schon sehr früh sein Hauptwerk abliefern, da er später keine Zeit mehr hatte aufgrund des immer wieder rasend machenden Versäumnisses der Revolution, den Tod ein für alle mal abzuschaffen. Als Schernikau zunächst berühmt wurde mit dem allerdings schwulen und noch ziemlich westdeutschen Werk »Kleinstadtnovelle«, erschienen 1980, da war er ein scharfer Jüngling, und die Idee einer Revolution begann schon irgendwie unscharf zu werden, zu verblassen, verblasen zu werden, langweilig, lächerlich, aus.

Als Schernikau dann schon in der DDR war, dort ab 1986 am Leipziger Literaturinstitut studierte, schon den kleinen, alles sagenden Ost-West-Bericht »Tage in L« schrieb, da wusste man nicht einmal in der DDR mehr, dass die Revolution bereits einige Male stattgefunden hatte, geradezu vor der Haustür. Man wollte von ihr derart nichts mehr wissen, dass man sie nicht einfach rückgängig machte, sondern tat, als habe es sie nie gegeben, als gäbe es also nicht einmal den Gedanken daran, dass an ihr etwas zu retten wäre, dass sie möglicherweise noch andauere, dass sie jetzt erst in ihre Recht gesetzt zu werden verdiene.

Schernikau glaubte davon natürlich kein Wort, weil er es besser wusste. Für ihn stand fest: der Kommunismus ist die einzige Hoffnung auf eine vernünftige, menschenwürdige Welt. Die DDR ist dieser Kommunismus nicht. Sie blamiert sich fürchterlich und tödlich an ihrem eigenen Versprechen, wie sich der Westen fürchterlich und tödlich am Versprechen der bürgerlichen Revolutionen auf Freiheit und Gleichheit blamiert. Aber sie stellt als einzige auf entsetzliche Weise die Fragen des Jahrhunderts, wie es Schernikaus Förderer und Freund Peter Hacks forumlierte. Schernikau wollte lieber diese Fragen als die falschen Antworten des Westens.

Und dieses bohrende Fragen verleiht der »legende« eine Dringlichkeit, eine glühende Liebe und eine Ernsthaftigkeit, die sich in der heutigen Literatur des übrig gebliebenen so genannten Deutschland nicht mehr finden lässt.

Dieses Buch ist natürlich ein Exzess und eine Überforderung auf allen Ebenen. Es ist dick. Es ist maßlos. Es ist alles reingeschrieben, was sein musste. Es ist komisch gesetzt. Es geht alles durcheinander. Es ist in gemäßigter Kleinschreibung. Es spielt in den 80er Jahren, aber ohne Retrochic. Es setzt voraus, dass man genau so klug sein soll, wie sein Autor. Es ist so schwul wie es heute gar nichts mehr Schwules gibt auf der Welt. Es möchte, dass man es liest und drüber nachdenkt in längeren, ungestörten Perioden. Und die zahlreichen Tocotronic-mäßigen Sätze zum an die Wand pinnen lassen sich nur sehr schlecht abfotografieren und auf Instagram posten, weil alles so klein gedruckt ist.

Es ist Modernismus, schlimmer als Joyce, den ja auch nur Angeber gelesen haben. Es ist Postmodernismus schlimmer als in jedem Seminar. Zitate, wohin das Auge blickt, aus dem ganzen schlimmen Kanon der westlichen weißen Männer. Und dann noch die Frauen aus dem Osten obendrauf! Zu allem Überfluss wird dann auch noch ganz ernsthaft immer von Sozialismus geredet. Dabei glaubt den nicht mal mehr der Gysi. Und das normale Deutschland heißt immer BRD und wird geschildert, als wäre es ein bissl blöd.

Schernikau ist aber auch weit entfernt davon, verwichste Hochliteratur produzieren zu wollen. Er will sich nicht selbst genügen. Er will was erzählen, weil er was verstehen will, was zeigen will. Das Buch soll was bedeuten. Schock! Es ist so maßlos und voll und verzweigt, weil die Welt, die Schernikau sieht, so ist. Du glaubst es heute nicht mehr und kannst es heute nicht mehr so sehen, weil die Welt dir einreden will, sie bedeute nichts mehr und sei nicht zu verstehen.

Schernikau kennt aber auch Pop, Sex, Witze Dreck, Quatsch und Schlager. Die Liebe zum nächsten schönen Mann, Knutschen, Fummeln und Geficktwerden, das ist immer genau so wichtig wie die Liebe zum nächsten klugen Text. Kommt alles vor. Er ist dennoch weit davon entfernt, etwas so Blödes wie Popliteratur zu fabrizieren. Jedenfalls nicht in dem Sinn, dass Medienschnipsel und die Songs der eigenen verblödeten Jugend so lustig glitzern, weil alles so lustig glitzert und irgendwie auch egal ist. Es gehört einfach zur Ganzheit der Welt. Und zur Lebendigkeit. Die »legende« ist ein irre lebendiges Buch, so lebendig, sie könnte genau so gut »lebende« heißen. Nicht zuletzt, weil in der Allesfresserform dieses Romans auch Interviews mit Leuten vorkommen, die ein ganz echtes Leben leben. Du wirst daran erinnert, dass Romane so was dürfen. Dass überhaupt echte Leute in Romanen vorkommen dürfen. Nicht zuletzt lesen möglicherweise auch echte Leute mit echten Berufen Romane. Es gab eine Zeit, als das anscheinend erlaubt war.

Was die »legende« so lebendig und durchschlagend macht, ist Schernikaus Beharren darauf, dass es eine echt Welt gibt, die sich in einem Text zeigen, verstehen, und, Achtung, jetzt kommt´s, spielerisch auch schon ändern lässt. Er beharrt darauf, dass Menschen die Welt schon verändert haben. Dass diese Versuche schrecklich gescheitert sind. Dass man das Ändern deshalb nicht sein lassen darf.

Eine Zeitungsleserin hebt den Finger. Ja, bitte? Worum, aber, geht es denn in dem Buch eigentlich? Och, du. Dass Klaus Mann, Ulrike Meinhof und ein paar andere Leute, die du dringend kennen lernen solltest, als Götter wieder in die DDR und nach Westberlin (was Westberlin ist, erklären wir ein anderes Mal) kommen. Um einen verknallten Schokoladenfabrikanten. Um Janfilip Geldsack und seine Hochzeit mit einer Kommunistin … nein, es gibt keine Credit Points fürs Lesen. Ja, Wiedersehen.

Der Roman ist eine köstliche, giftige Flaschenpost aus einer Welt und Zeit, als so was noch denkbar und sagbar war - jedenfalls für einen wie Schernikau. In unserer Zeit, wo Karl-Marx-Stadt auch unter dem Namen »Chemnitz« bekannt ist, sollte man wieder tief und gierig daraus trinken.

Wieder - oder erstmals. Die alte Ausgabe der »legende« erschien schon 1999 bloß in einem frühen Crowdfunding durch lauter alter Linke, weil wichtiger als dieses Buch zu lesen in den maßgeblichen Kreisen das Jammern war, es gebe ja keinen »großen Wenderoman« und ob nicht Günter Grass mal …

Günter Grass ist tot. Die »legende« lebt. Der Verbrecher-Verlag macht sie neu. Go steal this book. Oder buy it, damit die Tapferen, die in der Verzweiflung des Westens wirtschaften müssen, weitermachen können. Kauft es euch zu mehreren und bildet einen Lesekreis. Das wäre ein Anfang.

Ronald M. Schernikau: legende. Verbrecher, 1300 S. ,58 €

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