»Auf der Straße bist du ein Jäger«

Die Fotografin Benita Suchodrev über Licht und Leben

Sie haben die Berliner Studierenden der Puppenspielkunst in einem dialogischen Umgang mit ihren Puppen porträtiert. Wie kamen Sie auf die Idee, wie war der Prozess?
Von einem Bekannten erfuhr ich, dass diese Abteilung der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« gerne etwas haben wollte, was zeigen kann, dass Puppentheater etwas Schönes und Interessantes ist – und im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung nicht nur etwas für Kinder. Ich habe eine Liste mit den Fotos der Studierenden durchgeschaut und Gesichter ausgesucht, die ich sehr ausdrucksstark fand. Zehn Studenten und Studentinnen habe ich dann ausgewählt und mit allen einzelne Interviews geführt: mit jeder Person eine Stunde, um mich mit dem Thema Puppentheater vertraut zu machen. Um mehr zu verstehen, was dahintersteckt, dass diese jungen Menschen für sich so einen Beruf ausgewählt haben, was eigentlich sehr ungewöhnlich ist.

Was wollten Sie von ihnen wissen?
Es gab allgemeine und persönliche Fragen. Etwa, was für sie der Unterschied ist zwischen den normalen Puppen für Kinder und denen, die im Theater verwendet werden. Sie haben auch unterschiedliche Interessensgebiete: Objekttheater, Marionetten, Klappmaulpuppen oder alte Handschuhpuppen. Manche interessierten sich für Masken, weil man sich hinter einer Maske verstecken kann. Man kann jemand sein, der man nicht ist. Ich habe interessante, manchmal auch verrückte Sachen entdeckt, vor allem, dass sie eine ganz spezielle Beziehung zu ihren Puppen haben.

Zur Person
Benita Suchodrev ist eine internationale Fotografin. Sie wurde in der Sowjetunion geboren und wanderte mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten aus. Dort hat sie studiert. Seit 2008 lebt und arbeitet sie in Berlin. Anlässlich ihrer Fotoausstellung »Puppet Masters« in der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« hat Bahareh Ebrahimi mit ihr gesprochen.

Welche verrückten Sachen?
Eine hat mir zum Beispiel erzählt, wenn sie ein ganzes Semester mit einer Puppe arbeitet und dann sieht, dass jemand anderes diese Puppe anfasst, dann fühlt sie sich eifersüchtig. Für sie ist die Puppe wie ihr Partner oder ihr Eigentum. So hatte ich schon nach den Interviews bestimmte Vorstellungen, was sie gerne machen möchten. Dann haben wir unser Fotoshooting vereinbart. Die Hochschule hat einen Riesenfundus an Requisiten, Puppen und Kostümen, der damals noch im alten Gebäude in Lichtenberg war. Ich bin dorthin gefahren und habe rein intuitiv ganz viele Kostüme und Puppen geholt. Jede Person habe ich mit unterschiedlichen Kostümen fotografiert. Es entstanden Tausende von Bildern. Was hier hängt, ist ein winziger Bruchteil.

Wie lange hat das ganze Fotoshooting gedauert?
Mindestens drei Stunden pro Person, manchmal fünf! Die zehn Shootings habe ich in einem Monat gemacht. Man muss bedenken, dass ich alles allein mache. Normalerweise hat man bei einem Fotoshooting einen Stylisten und einen Assistenten, auch Menschen, die schminken oder das Licht machen. Es dauert auch etwas, bis die Studierenden sich entspannen. Es gibt eine mentale Aufwärmphase: Sie müssen sich daran gewöhnen, in einem leeren Raum zu sein, wo alles schwarz ist und zwei Lichter strahlen. Und es gibt nichts außer Requisiten und Kostümen und das Wichtigste: Es gibt kein Skript. Da ist Improvisation entscheidend. Deshalb habe ich das Ergebnis »improvisierte Inszenierungen« genannt. Ich habe alles inszeniert, aber sie haben mit dieser Inszenierung etwas ganz Spontanes gemacht. Dieser Moment war das Theater.

Gab es bestimmte Linien, die beim Fotografieren der Studierenden nicht überschritten werden sollten?
Nein, ich hatte die komplette künstlerische Freiheit. Bei manchen Bildern sieht man etwa Körperteile oder halbnackte Menschen. Das alles entstand durch gemeinsame Entscheidungen. Ich habe niemandem gesagt, du solltest dich jetzt ausziehen. Das würde ich nie tun. Man muss sich damit wohlfühlen, man muss sich auch durch den Körper ausdrücken können.

Sie selbst haben drei verschiedene Länder, drei Welten sozusagen, erlebt: Sowjetunion, USA, Deutschland. Wie würden Sie die Unterschiede beschreiben?
Die Sowjetunion habe ich verlassen, als ich sehr klein war. Deshalb kann ich nicht viel dazu sagen. Ich bin praktisch in den USA aufgewachsen, in der Nähe von New York City, in Süd-Connecticut. Das ist eine sehr konservative, aber auch sehr wohlhabende Gegend. Es sind hauptsächlich Geschäftsleute, die in New York arbeiten und in Süd-Connecticut schlafen. Deswegen nennt man diesen Teil von Connecticut »das Schlafzimmer von New York«. Meine Familie war nicht reich und wir lebten in dieser Umgebung. Es war für mich als Künstlerin nicht besonders einfach, ich war sowieso nicht eine von ihnen. Trotzdem habe ich dort studiert, habe ein bisschen gekämpft, um meinen Platz zu finden. Und in Deutschland bin ich in Berlin. Berlin ist nicht Deutschland, Berlin ist Berlin. Ich bin glücklich hier und fühle mich sehr frei. Meine besten Projekte sind in Berlin entstanden. Man langweilt sich hier nicht und hat eine Inspirationsquelle.

Sie haben eine Ihrer Fotoserien »Halb-Berliner/in« genannt, fühlen Sie sich wie eine Halbberlinerin?
Ich fühle mich immer wie halb irgendetwas! (lacht) Ich bestehe aus mehreren Teilen. Zu Hause hatte ich immer die russische Kultur, davon bin ich geprägt. Die US-Amerikaner sind anders, sehr konsumorientiert, sehr praktisch, pragmatisch. Es gibt sehr viel Konformismus in den USA, natürlich auch besondere Persönlichkeiten, aber das System ist sehr homogen. Man muss das ertragen können. Ich bin nach Berlin gekommen, weil ich es nicht mehr konnte, weil ich kein Konformist bin.

»Puppet Masters« ist ja eine inszenierte Fotografie. Sie fotografieren aber auch dokumentarisch. Wie ist es auf der Straße?
Auf der Straße bist du ein Jäger, ich bin es zumindest. Man braucht Mut. Du siehst einen Moment und du möchtest ihn haben. Da ist deine Kamera deine Hand, und du nimmst diesen Moment mit.

Gab es Fälle, in denen die Menschen nicht fotografiert werden wollten?
Es hängt davon ab, wo man fotografiert. Es gibt Länder und Städte, wo man vorsichtiger sein sollte. Aber überall muss man sehr schnell sein. Die Wahrheit ist, dass man Bilder auf der Straße klaut, ob man das zugibt oder nicht. Dein inneres Auge sieht etwas, und das Bild muss entstehen, bevor du kapiert hast, was du gesehen hast. In dem Moment, in dem du das verstehst, ist der Moment weg. Das ist ein sehr interessanter Mechanismus, wie das Ganze funktioniert. Deine Hand, dein Auge, deine Intuition und das Leben, alles muss in einem perfekten Moment zusammenkommen, um ein perfektes Bild zu haben.

Bevorzugen Sie eine von diesen beiden Arten der Fotografie?
Die dokumentarische Arbeit ist für mich wie meine Leidenschaft für Film, und die inszenierte Arbeit ist wie meine Leidenschaft für Malerei. Ich frage mich auch, wieso ich beides mache. Viele haben nur einen Ansatz. Es sind unterschiedliche Welten: Bei der inszenierten Fotografie habe ich volle Kontrolle. Licht, Kostüm, Blickwinkel, alles wird von mir entschieden. Ich arbeite sehr intuitiv, trotzdem inszeniere ich die Welt im Bild. Bei der dokumentarischen Arbeit habe ich kaum Einfluss. Ich gehe hinaus und schieße, was kommt. Bei der einen spielt das Licht die prominente Rolle, bei der anderen das Leben. Am Anfang meiner Kariere habe ich oft im Studio fotografiert und fühlte mich so wohl und geschützt. Je mehr man Vertrauen in seine Arbeit hat, desto weniger Kontrolle braucht man, um sich sicher zu fühlen. Heute brauche ich das, worüber ich keine Kontrolle habe, wo das Leben mich überrascht.
»Puppet Masters«, bis 20.12., HfS Ernst Busch, Zinnowitzer Str. 11, Berlin.

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