Land auf dem Trödel
Ein französischer Historiker sucht nach Spuren der DDR. Von Stefan Ripplinger
Nicolas Offenstadts Buch über »das verschwundene Land« DDR hat einen einzigen Nachteil: Der französische Historiker hat das Land, über das er schreibt, nie besucht. Seine Erklärung für dieses Versäumnis ist nicht sonderlich überzeugend; er schreibt, es sei ihm zu viel Papierkram gewesen, ein Visum zu beantragen.
Doch am Ende schlägt seiner Untersuchung dieser Nachteil gerade zum Vorteil aus. Denn was einer zu kennen glaubt, das erforscht er nicht. Und wenn er es doch erforscht, hält er es nicht für nötig, jede Kleinigkeit zu belegen. Offenstadt aber belegt sogar jede Winzigkeit. Er setzt die DDR aus faszinierenden Fundstücken zusammen: Akten, Büchern, Zeitschriften, Plakaten, Wimpeln, Plaketten, Schildern, Fahnen, Münzen, Geschirr, »Bako«- und »Mocca Fix«-Tüten, aus dem rosa Elefanten Emmy, der für das »SERO«-Rohstoffsystem warb, aus umkämpften Lenin-Denkmälern oder geräumten Wilhelm-Pieck-Häusern. Dazu kommen seine vielen Begegnungen mit Menschen der DDR. Es können zufällige Mitreisende im Zug, es können Trödler oder Diskutierende am nd-Stand des »Humanité«-Pressefests ebenso sein wie gezielt angesprochene Zeitzeugen. Fachkollegen oder Intellektuelle meidet der Historiker sympathischerweise. Die kommen ohnehin ständig zu Wort.
Mangelnden Fleiß kann man ihm nicht vorwerfen, seine Literaturliste ist beeindruckend. Aber früh entscheidet er sich dazu, sich nicht ausschließlich auf in Abhandlungen und Archiven vorsortierte Informationen zu verlassen. Er wählt eine ungewöhnliche und nicht ganz unumstrittene Methode: die Spurensuche. Das ist ein großes Glück für die Leser, denn dem Forschungsreisenden in verlassene Fabriken und Büros zu folgen, wo er Personalakten buchstäblich aus dem Dreck zieht, ist ebenso spannend, wie ihn zu Gesprächen mit früheren Kadern der NDPD oder zu einem Kaffee bei einer ehemaligen Lohnbuchhalterin der Zinkweißhütte zu begleiten. Nicolas Offenstadt ist ein angenehm zu lesender Autor, persönlich, offen, kritisch, gewandt, aber nirgendwo penetrant subjektivistisch oder sensationshungrig.
Er setzt die DDR wie ein Mosaik aus vielen Steinchen zusammen, von denen jedes einzelne unbedeutend und nichtssagend sein könnte. Zusammen ergeben sie ein großes und recht genaues Bild. Jede Biografie, der er nachgeht, jedes Objekt, das er vorstellt, hinterlegt Offenstadt mit Statistiken und Analysen aus der Literatur, was den Entdeckungen nicht ihre Frische und Lebendigkeit, aber ihre Zufälligkeit nimmt. Etwa steht die Lohnbuchhalterin, mit der er sich unterhält, für die vielen Frauen, die in der DDR berufstätig und politisch engagiert waren, auch wenn sie sehr selten in die Führungsriege aufstiegen. Erich Honeckers »Muttipolitik« strebte an, dass ledige Mütter arbeiten können. Im Westen sind sie bis heute die gesellschaftliche Gruppe mit dem höchsten Armutsrisiko.
Berührend ist die Geschichte von Harry, einem Fahrer mit Alkoholproblemen. Wohl kam es wegen seiner Sucht immer wieder zu Konflikten mit seinen jeweiligen Arbeitgebern, aber nach jedem Fehlverhalten wurde er einfach auf eine andere Stelle versetzt. Dafür, dass in der DDR die »Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess Priorität« hatte, ist Harry nur ein Beispiel von sehr vielen. Im Westen gilt dagegen von jeher die Regel: »Wer nicht spurt, fliegt.«
Viel häufiger als auf gut erhaltene trifft der Historiker auf bereits verwischte Spuren. Die Treuhand, die westdeutschen Unternehmer, Politiker, Journalisten und Wissenschaftler haben binnen kurzem eine Republik von der Landkarte radiert. Auch ihre Kultur, ihre Werte, selbst ihre Begriffe wurden getilgt. Offenstadt zeigt diese Säuberung am Beispiel von Gestalten wie Georgi Dimitroff oder Ernst Thälmann auf. Die gesamte DDR war mit ihren Denkmälern, Gedenkstätten und -tafeln übersät, Straßen, Plätze, Institutionen waren nach ihnen benannt. Fast nichts davon ist geblieben. Dass diese Persönlichkeiten »für den Stalinismus stehen«, schreibt Offenstadt, sei »unbestreitbar, aber sie stehen auch für den antifaschistischen Widerstand«.
Die von der BRD betriebene systematische Delegitimierung von Werten der DDR zielte zugleich auf die Delegitimierung von Antifaschismus und Arbeiterbewegung. Denn anders wäre es nicht zu erklären, dass auch nach Thomas Müntzer benannte Straßen und Gebäude umbenannt wurden. Und den Revolutionär Müntzer (1489-1525) einen Stalinisten zu nennen, wird selbst dem gewieften West-Ideologen schwerfallen.
Wo Spuren verwischt werden, erhebt sich hin und wieder Widerstand, nicht unbedingt nur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Offenstadt besucht das DDR-Kabinett in Bochum und beschreibt es so unbefangen, wie das nur ein Außenstehender tun kann. Im Gegensatz zu dem gegen eine Veranstaltung dieses Kabinetts demonstrierenden Grüppchen aus Grünen, Vertretern von FDP, SPD und antideutscher Antifa, findet er den Auftritt von DDR-Veteranen oder das Absingen von roter Folklore weder anstößig noch besonders komisch, einfach nur interessant.
Andererseits liegt ihm »Ostalgie« fern; er wäre vermutlich auch der erste Franzose, der von ihr befallen wird. Er verklärt nicht, er aktualisiert. Drei Punkte, schreibt er, hätten ihm die Verteidiger der DDR immer wieder als deren Vorzüge genannt: »soziale Sicherheit, Antifaschismus, Frieden«. Und sind es diese Werte in einer Zeit, in der die extreme Rechte drittstärkste Kraft im Parlament ist, Bundeswehreinsätze im Ausland genehmigt werden und der Sozialstaat abgerissen wird, nicht wert, mit neuem Leben gefüllt zu werden? Die Spuren, die von dem »verschwundenen Land« geblieben sind, »leisten Widerstand«, sobald sie in die Spannung zwischen politischen und gesellschaftlichen Kräften geraten. Nicht darauf, was die DDR war oder nicht war, sondern darauf, für was sie weiterhin stehen könnte, kommt es an.
Nicolas Offenstadt: Le pays disparu. Sur les traces de la RDA. Stock 2018, 416 S., 22,50 €.
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