- Politik
- Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen
»Wir können voneinander lernen«
Die Soziologin Raia Apostolova über Proteste in Sofia und Berlin zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen
Am Montag protestieren in Sofia Feministinnen gegen Gewalt an Frauen. Bulgarien hat die Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, nicht ratifiziert. Weshalb ist das politische Parteienspektrum, inklusive der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), so einhellig dagegen?
Die Kräfte an der Macht - dazu gehören die konservativ-rechtsextreme Regierungskoalition von GERB und den »Vereinigten Patrioten«, aber auch die BSP - machen sich zunehmend Sorgen darüber, wie der Status quo aufrechtzuerhalten ist. Mit der Debatte um die Istanbul-Konvention konnten sie die Unzufriedenheit der Bevölkerung von sich auf eine vermeintliche Bedrohung von außen umlenken. Sie schürten die Idee einer Verschwörung gegen die bulgarische Gesellschaft unter der Führung ausländischer Mächte, eine »Gender-Invasion«. Ende Juli hat das Verfassungsgericht entschieden, dass die Konvention nicht mit der Verfassung vereinbar ist. Dass die Bevölkerung grundsätzlich unzufrieden ist, zeigt sich auch in den aktuellen Protesten gegen die Preissteigerungen bei Kfz-Versicherungen und -steuern.
Wie konnten sie diese Deutung der Konvention durchsetzen?
Die Konservativen haben queere Menschen benutzt, um einen Feind zu schaffen, gegen den sich die Unzufriedenen in der Bevölkerung mobilisieren lassen - mit extremen Formen von Nationalismus. Ihr Kreuzzug ging so weit, dass ernsthaft diskutiert wurde, ob die Istanbul-Konvention die »traditionelle bulgarische Familie« durch die Einführung eines dritten Geschlechts zerstören würde. Hilfreich war dabei ein Missverständnis um den Genderbegriff, der im Text der Konvention vorkommt. Eine direkte Übersetzung von »Gender« ins Bulgarische gibt es nicht, viele Menschen bringen den Begriff nicht mit häuslicher Gewalt, sondern mit LGBTQ-Themen in Verbindung.
Raia Apostolova ist Mitglied des linken feministischen Kollektivs LevFem in Sofia. Sie hat in Soziologie und Sozialanthropologie promoviert. Mit ihr sprach für »nd« Hannah Schultes. Foto: privat
Ein anderer Grund für Protest ist die Diskussion um den Mutterschaftsurlaub. Worum geht es dabei?
Die Assoziation des Industriekapitals in Bulgarien (BICA) will, dass der Zeitraum für den Mutterschaftsurlaub reduziert und die Höhe des Entgelts gesenkt wird. Bestärkt hat sie eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, in der argumentiert wurde, dass Elternzeit keine Arbeit ist - da begann der Angriff. In Bulgarien gibt es noch das Recht auf eine verhältnismäßig lange bezahlte Elternzeit. Zuerst wurde eine Kürzung des Anspruchs gefordert, dann eine Verringerung der Zahlungen im ersten Jahr und jetzt geht es darum, dass der Mutterschaftsurlaub auf die Urlaubstage angerechnet wird. All das zielt darauf ab, dass die Frauen nach der Geburt schneller wieder arbeiten gehen.
Was hat das mit dem 25. November zu tun, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen?
Viele Mütter sind bereits jetzt arm. Was sie im ersten Jahr bekommen, bemisst sich am Bruttoentgelt der letzten zwei Jahre. Wer davor arbeitslos war oder illegal gearbeitet hat, erhält sehr wenig Geld. Im zweiten Jahr bekommen die Frauen derzeit umgerechnet um die 160 Euro pro Monat, ein lächerlicher Betrag. Der Angriff auf den Mutterschaftsurlaub macht Müttern die Mittel zur sozialen Reproduktion streitig: Zeit und Geld. So kann sich die ökonomische Abhängigkeit von Männern verstärken, die wiederum bei Gewalt gegen Frauen eine Rolle spielt. Und die gibt es auch in Bulgarien: 2018 gab es 22 Frauenmorde.
Ihre Gruppe ruft zu Solidarität auf, in Berlin ist am heutigen Montag ebenfalls ein Protest vor der bulgarischen Botschaft geplant. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die Solidarität von Feministinnen in westeuropäischen Ländern in Bulgarien als westlicher Liberalismus diskreditiert wird?
Für den Feminismus ist die Solidarität über unterschiedliche Kontexte hinweg notwendig - aber nicht im Sinne einer universellen Schwesternschaft, wie sie Frauen in Westeuropa und den USA in den 1980er Jahren propagiert haben. Unser Kontext ist ein postsozialistischer, und die letzten 30 Jahre war Bulgarien ein eindrucksvolles Beispiel für radikal neoliberale Wirtschaftsexperimente. Aber auch Feministinnen in Deutschland sind nicht homogen - unter ihnen gibt es Ungleichheiten aufgrund Klasse, sexueller Orientierung, Religion oder Migrationsgeschichte. Wir können voneinander lernen, wenn wir mit dem Bewusstsein für unsere Geschichten kämpfen.
Protest:
Montag, 26. November, 18 Uhr, Bulgarische Botschaft, Leipziger Straße 24
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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