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Unermesslich die Weite dieses »Landes der Ströme und der Flüsse«

Olivier Rolin reiste auf der Baikal-Amur-Magistrale durch Sibirien und provoziert Nachdenken über zerstörte Utopien

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

»Vor mir also, in der Sonne glitzernd, der Amur. Breit wie ein Meeresarm. Fast achthundert Kilometer vor seiner Mündung. Wir sind angekommen. Viertausend und ein paar Kilometer seit dem verschneiten Krasnojarsk. Alte Männer tanken Sonne am Strand, die Mützen fest über die Ohren gezogen ... Ich wäre gern im Flusshafen von Komsomolsk an Bord eines Schiffes nach Nikolajewsk gegangen ...« Der Grund: In Nikolajewsk nahm im Jahre 1890 Tschechow ein Schiff nach Sachalin, um sich über die Straflager dort zu informieren. Der Fährverkehr nach Nikolajewsk ist in den letzten Jahren aber eingestellt worden - wie so vieles in den Städten und Häfen, die der französische Autor bei seiner Fahrt mit den Eisenbahnen auf der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) durchmisst. Fabriken, Schiffe, Fischereibetriebe sind heruntergekommen, nutzlos geworden. Wie »ein Museum für die Spätphase sowjetischer Stadtplanung« erscheint dem Reisenden die in den 1970er Jahren gebaute Stadt Tynda, nicht schlecht, nun aber mit dem »sympathischen« Hauch der Armut überzogen. Auch andernorts begegnet er diesem merkwürdigen spät-sowjetischen »Charme«.

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Olivier Rolin: Baikal – Amur. Ein Reisebericht.
A. d. Franz. v. Holger Fock u. Sabine Müller. Liebeskind, 190 S., geb., 20 €.

Im Stadtmuseum von Tynda kann man in der dem Gulag gewidmeten Abteilung einen »Lagerplan für den Bau der BAM 1932-1940« sehen. Er ist entlang der Eisenbahnlinie rot gesprenkelt. Die Punkte markieren einstige Sammel- und Straflager. »Lager und Massengräber sind eine Konstante der Landschaft«, eine »Signatur des Terrors«.

Will ein Mensch dieses Land am Rande der Welt ermessen, dann stößt er unweigerlich an Grenzen. Es ist das Wort »unermesslich«, das einen beim Lesen dieses faszinierenden Reiseberichts anspringt und nicht wieder loslassen will. Unermesslich erscheint dem Reisenden die Weite dieses »Landes der Ströme und der Flüsse«, die Eiseskälte im Winter, der Reichtum der Natur und unerschlossenen Bodenschätze, einer Landschaft, »die immer abstrakter wird«.

Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk hat in seinem Buch »Der Osten« angesichts der sibirischen Weiten von einer »unbarmherzigen Unendlichkeit« gesprochen und von »idealen Orten für Verbannung, Isolation und Vergessen«. Unermesslich ist die Trauer angesichts des Leides Zehntausender Menschen, die hier beim Bau der Eisenbahnstrecke unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten und ihr Leben verloren - Zwangsarbeiter, Deportierte, ehemalige spanische Kommunisten, deutsche und japanische Kriegsgefangene, russische Intellektuelle, Schriftsteller ...

Olivier Rolin reist auf der Magistrale, nördlich der Transsibirischen Eisenbahn, von Taischet Richtung Osten über die Lena, entlang der Nordseite des Baikalsees, über den Amur bis zur Insel Sachalin am Tatarensund. Das ist eine Bahnlinie gewaltigen Ausmaßes: 4287 Kilometer Schienenweg, 2230 Brücken, 212 Bahnstationen, drei Zeitzonen. Geplant für die Erschließung Sibiriens, wurde die Strecke in den 1930er Jahren zum Monument stalinistischen Terrors. Spätere neue Erschließungs- und Aufbauversuche in den 1950er/60er Jahren haben das nicht mehr übertünchen können. Mit der »Katastrophe« in den 1990er Jahren, sagen viele Leute dem Autor, sei alles kaputt gegangen.

Olivier Rolin geht in die Museen und erkundet den Umgang mit der Vergangenheit. Er beschreibt Hotels und Gaststätten, bröckelnde Fassaden einstiger Kulturpaläste, Holzhütten mit Blechdächern, Schrottplätze und Birkenalleen. Literarische Assoziationen (von Tschechow bis Mandelstam) verbinden sich mit der leidvollen Geschichte dieses Stückes Erde, das jetzt zu großen Teilen der Verlorenheit anheimgegeben scheint.

Das Buch ist mehr als ein Reisebericht, es bedeutet Nachdenken über zerstörte Utopien und über Grenzen von Selbstvermessenheit und menschlichem Vermögen.

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