Mögen die »Wölflein« beißen
Leuchtendes Erbe: Zum 100. Todestag des Historikers und Journalisten Franz Mehring
Der Publizist Günter Gaus hat am Ende des 20. Jahrhunderts den Dichter Stephan Hermlin beschrieben: Dessen silbergraues Haar erwecke den Eindruck, noch in geschlossenen Räumen wie im Sturm zu wehen. Eine Metapher, wie für Franz Mehring geschrieben, ein Bild für den Mut, sich obwaltenden Umständen auszusetzen und ihnen ausgesetzt zu bleiben. Leben hat Sinn gehabt, wenn man nicht ungeschoren blieb.
Mehring ist Historiker und Literaturforscher, Tagesjournalist und Essayist. Er geißelt den Militarismus Preußens, er ficht leidenschaftlich für eine proletarische Nutzbarmachung klassischer Literatur. Er ist ein Extravaganter des Gewerbes gewesen, zu seiner Zeit wohl der Kraftvollste. Zunächst ein preußischer Liberaler, dann ein bürgerlicher Radikaldemokrat, später ein Marxtreuer in der II. Internationale. 1891 wird er sich endgültig der organisierten Arbeiterbewegung angeschlossen haben, 45-jährig. Von den Mitbegründern des Spartakusbundes 1916 ist Mehring der Älteste - es folgt der Aufbruch zur KPD. Dieser erste und bis heute gründlichste Geschichtsschreiber der Sozialdemokratie wird letztlich am schärfsten den Marx’schen Nährboden verteidigen. Sein Biograf Thomas Höhle spricht von »grandioser Konsequenz«.
Zunächst hatte er sich zu Ferdinand Lassalle bekannt. Wird ihm eine »Tatze des Löwen« attestieren, Karl Marx aber bezeichnet er als einen berechnenden Grübler, dessen Polemik »einen unsäglich keifenden, kleinlichen, versteckten widerwärtigen Zug hat« und der sich fairen Auseinandersetzungen »gleich dem Tintenfisch in einer Wolke von Schimpfworten« entzieht.
Was mit Lassalle in die Politik kommt, ist beim Gesellschaftsumbau eine provokante Fürbitte um Frieden. Nicht nur den Hütten, auch den Palästen? Der Staat als einheitsstiftende, solidargestützte Instanz. Es ist der Glaube an eine entwickelbare Sittlichkeit auch des Arbeiterstandes - was schließlich zum sozialistischen Staat führen soll. Führen soll, sagen die Träumer; das klingt gewaltig. Führen muss, sagen die Radikalen; das klingt gewalttätig. Lassalle propagiert den ehrbaren Illusionismus der Sozialpartnerschaft.
Wahrlich: Arbeiter-Bewegung. Denn nie mehr wird Ruhe einkehren im Widerstreit zwischen den geistigen Polen Radikalität und Reform, zwischen den Alternativen Krieg gegen das Kapital und Kompromiss mit Kapitalisten. Im sozial-demokratischen Gründungsbau lauert der Riss, der die deutsche Arbeiterbewegung prägen, peinigen wird, im Grunde bis heute.
Mehrings Hauptsinneskraft bleibt die Nervosität, schon leichteste Berührung kann in ihm einen Vulkan auslösen; es etabliert sich ein Charakter klarer Haltung, aber die steht in keinem Gegensatz zur Rundum-Bewegung des Suchens, auch der ständigen Gefasstheit auf Feinde. Er untersucht Geschichte, vor allem aber erzählt er sie; er schlägt mit Bildung in Bann. Er steht nicht im Stoff - er bewegt sich darin, sprungfedernd von Satz zu Satz, frei an der Kette der Logik, verblüffend assoziativ.
Er wird am 27. Februar 1846 im pommerschen Schlawe geboren. Wird streng protestantisch erzogen, streift die Theologie, studiert Philosophie. Wird Journalist. Über Jahre ist er vor allem: Leitartikler. Ein Spezialist der Kommandobrücke. Er flaggt, und jenen Sturm, der das Fahnentuch wehen und knattern lässt, liefert er gleichsam mit. Ein bebender, entzündbarer Mensch, der seine Denkungs- und Formulierungsart gegen das Gröbste einsetzt: die Darwinisierung des Gemeinwesens.
1879/80, in den »Preußischen Jahrbüchern«, schreibt er: »In den sozialen Wirren unserer Epoche gibt es vielleicht keine trostlosere Erscheinung, als die geistige Entfremdung zwischen den oberen und unteren Schichten des Volkes.« Es ist, als spräche da eine gegenwärtige Stimme - über jene derzeitige Lethargie im politischen Raum, die auch aus machtvoll eingegrabenem Desinteresse der Begünstigten am Los der Unterprivilegierten resultiert. Und links wiederum das Elend der Bürgertumsfeindlichkeit befördert.
Er ist der Untertan seiner Sinne, die ihm andauernd Alarmsignale liefern. Schreibender zu sein, es bedeutet ihm nicht das, was den Journalisten landläufig so attraktiv macht: jene Mischung aus Galan, gehobenem Privatdetektiv, Schiedsrichter der Politik und gemäßigter Boheme. In einer seiner wichtigsten Schriften, der »Lessing-Legende« von 1893, wird Mehring unmissverständlich aufräumen mit jenem Gattungsgefasel, das in der Natur des Menschen nur immer bös-genetische Kräfte ortet, die jeden politischen, sozialen, ethischen Kampf als sinnlos abtun.
1889 wird Mehring Chefredakteur der Berliner »Volkszeitung«. Ist publizistisch einer der Umstürzler des Bismarck’schen »Sozialistengesetzes«. Ab 1902 ist er Chefredakteur der »Leipziger Volkszeitung«, des führenden Blatts des linken Flügels der Sozialdemokratie. Er leitet das Blatt von Berlin aus, wenn er nach Leipzig fährt, setzt er sich »an den Schreibtisch und schmettert auf der Stelle einen Leitartikel« (Hermann Duncker). Auch wird er Mitglied des Zentralbildungsausschusses der SPD und maßgeblicher Kopf der »Neuen Zeit«. Gibt Nachlässe heraus. Beschäftigungsrausch.
Ob er Cervantes rezensiert oder Calderón, ob er die »deutsche Fremdwörterei« untersucht oder eine Rede des Kaisers an die Berliner Bildhauer aufs Korn nimmt, ob er er skandinavische Literatur beobachtet oder Proletarierblusen glossiert, ob er Partei nimmt oder die Partei quält, ob er Nietzsche abkanzelt oder Schiller feiert (und über ihn ein »Lebensbild für deutsche Arbeiter« entwirft), ob er die aktuelle politische Stunde kommentiert oder das Säkulum seziert - er schreibt einfach gut!
Er ist schnell, er wird schnell fuchtig. In der »Neuen Zeit« prägt er das Feuilleton. Auch vor Kritik an Parteichef August Bebel macht er nicht halt, der beschwert sich - und so verliert Mehring das Privileg, seine Texte unkontrolliert an die Druckerei zu liefern. Redaktionskollege Karl Kautsky ist es, der engere Grenzen für Mehring verfügt. Der packt seine Sachen. Er teilt Kautsky mit, gesprungenes Glas könne man nicht kleben. Schluss!
Was für eine Zeit! Dieser gnadenlose Ton auch unter Freunden. Dieses Klirren der gegenseitig attestierten Verwunderungen - und zugefügten Verwundungen. Haltungsextremisten in Aktion. Man gibt einander viel, indem man sich nichts schenkt. Just die Beziehung zwischen Rosa Luxemburg und Franz Mehring erzählt von diesem Heiß und Kalt - zwischen Gleichgesinnten, die doch nicht hinterm Berg halten, wenn Stierkampf angesagt ist. Sie werden für kurze Zeit gemeinsam die »Leipziger Volkszeitung« leiten. Zwei starke Charaktere, mitunter mit Eisen im Gemüt, wenn es die eigene Unantastbarkeit fordert. Mehring meint in Luxemburg arg bestimmerische Züge zu erkennen, das reizt seinen eigenen Durchsetzungswillen. Streit. Trennung.
Aber in entscheidenden Momenten steht die Luxemburg an seiner Seite. Etwa beim Parteitag 1903 in Dresden: Als mit revisionistischen Tendenzen abgerechnet wird, teilt man auch gegen Mehring aus, durchforstet frühe Schriften, als rupfte man Unkraut. Der Delegierte als Delinquent. Er muss an frischere Luft, muss hinaus, auch aus der Kurzatmigkeit des Pressewesens, wo das Wort ständig in japsende Kriege zieht, die den Kampfeswillen stärken, aber den Verstand schwächen. Er wendet sich seiner Marx-Biografie zu - seit Jahren der vernachlässigte Stoff. »Meine Person mögen die Wölflein wegbeißen, aber an meinen Werken werden sie sich die Zähne zerbrechen.«
1917 wird Karl Liebknecht verhaftet, Mehring nimmt dessen Platz im Landtag Preußens ein. Scharf, anklagend. Er hält nichts von apokalyptischen Schwafeleien, nichts von ahistorischen Schicksalstheorien, er sieht konkrete Kriegsnot, konkrete Schuld, konkrete Handlungsgebote. Als Mehring am 28. Januar 1919 stirbt, schreibt sein Nachlassverwalter Eduard Fuchs: »Als die Nachricht von dem bestialischen Meuchelmord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu ihm traf, irrte er stundenlang in seinem Zimmer auf und ab ... bis der Greisenkörper erschöpft in den Lehnsessel sank. Aber er sprang immer sofort wieder auf, sobald er sich notdürftig erholt hatte ... Es war erschütternd anzusehen, wie dieser große Geist noch im Absterben die höchste Kraft der Liebe und des Hasses in sich barg.«
Franz Mehring. Das Gehirn eine leuchtende Klinge. Selbst wenn die Schreibanlässe zugestaubt sind: Es geht um Weitergabe der Hoffnung: dass die Menschheit, als ein Wunder dieses Erdballs, trotz aller Rückschläge und Selbstzweifel, doch stiftend beteiligt bleibt. Historiker von Mehrings Art sind Menschen, die kämpferische Sehnsüchte nach Güte wecken. Solche Sehnsüchte machen die Welt unsicher. Wahre Geschichtsschreiber sind also gefährlich. Gefährlich währt am längsten.
Unser Autor Hans-Dieter Schütt ist Herausgeber und Autor des demnächst erscheinenden Taschenbuches »Franz Mehring oder: ›Der beste zur Zeit lebende Publizist‹«, Dietz Verlag Berlin, 150 S., br., 12 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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