»Es ist eine Trendwende zu beobachten«

Der neue Wirtschaftsweise Achim Truger über den Wunsch der Menschen nach sozialer Sicherheit und die Möglichkeiten der Politik

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 9 Min.

Herr Truger, Sie sind seit diesem Monat Mitglied des Sachverständigenrats der Bundesregierung. Was versprechen Sie sich von dem Job als Wirtschaftsweiser?

Für mich ist es eine große Ehre, dass ich berufen wurde. Ich habe schon über viele Jahre wirtschaftspolitische Beratung gemacht und freue mich nun, einem so herausgehobenen Gremium anzugehören. Natürlich erhoffe ich mir auch, dass meine Positionen und Argumente stärker gehört werden.

Zur Person

Achim Truger ist seit März Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und damit einer der fünf sogenannten Wirtschaftsweisen. Er folgt auf Peter Bofinger und ist von den Gewerkschaften für das Gremium vorgeschlagen worden. Auf Vorschlag der Arbeitgeber ist Volker Wieland seit 2013 Wirtschaftsweiser. Truger ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Na dann sagen Sie mal: Was raten Sie der Bundesregierung, was finden Sie besonders wichtig?

Die Politik hat enorme Spielräume, die Gesellschaft zu gestalten, und sie sollte diese Spielräume auch nutzen. Schauen Sie: Bürgerinnen und Bürger wollen gute Kitas und Schulen, gute und sichere Jobs, soziale Sicherheit und funktionierende Bahnen. Das sind berechtige Anliegen, ebenso wie die Forderung nach mehr Klimaschutz. Die Politik kann diese Aufgaben angehen. Mein Job als Volkswirt ist es, die Politik dabei zu unterstützen, gut informierte Entscheidungen zu treffen, aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen was möglich ist.

Wollen Sie damit sagen, dass die Politik alle Wünsche erfüllen kann?

Nein, sie kann kein Wolkenkuckucksheim versprechen. Es ist aber ungeheuer wichtig, dass die Politik die Probleme, die die Menschen haben, angeht. Wenn Bürger den Eindruck haben, dass die Volksvertreterinnen und Volksvertreter nicht handlungsfähig sind, wenn sich die Menschen verlassen fühlen und Regionen abgehängt werden, nimmt die gesellschaftliche Polarisierung weiter zu. Dann erodiert letztlich auch die Zustimmung zur Demokratie.

Über viele Jahre haben Bundesregierung und Bundestag das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit nicht gerade ernst genommen, sondern Sozialleistungen gekürzt. Inzwischen wird wieder über eine etwas bessere Absicherung diskutiert, etwa für alte und arbeitslose Menschen. Ist die neoliberale Politik in ihrer Reinform Geschichte?

Ich bin kein Wahrsager. Es ist aber schon eine Trendwende zu beobachten. Um die Jahrtausendwende hat die rot-grüne Koalition - ebenso wie andere Regierungen - eine drastische Deregulierungs- und Sozialabbaupolitik betrieben. Ich war damals ziemlich schockiert, weil ich in keinem ökonomischen Lehrbuch finden konnte, dass ein derartiger Wirtschaftskurs zwingend ist. Dort wurde immer ein breites Spektrum an Möglichkeiten beschrieben. Diese Politik scheint vorerst vorbei zu sein, jedenfalls hat es nach 2005 keine radikale Deregulierung oder Sozialkürzungen mehr gegeben.

Die große Koalition hat zum Beispiel beschlossen, das Rentenniveau bis 2025 auf 48 Prozent zu stabilisieren. Und sie plant eine Grundrente für Geringverdiener, die höher sein soll als die Sozialhilfe. Geht das in die richtige Richtung?

Unbedingt. Die Bedeutung einer sicheren Altersversorgung kann man gar nicht überschätzen. 1957 ist in Westdeutschland unter Adenauer die umlagefinanzierte Rente eingeführt worden. Wirtschaftshistoriker sagen, dass diese Entscheidung große Teile der Bevölkerung mit dem System in Westdeutschland endgültig versöhnt hat, weil ihnen die Angst vor Altersarmut genommen wurde. Das hat die Gesellschaft sozial und ökonomisch enorm stabilisiert. Deshalb ist es vernünftig, wenn nun die gesetzliche Rente gestärkt wird.

Industriepräsident Kempf sieht das anders, er sagt mit Blick auf die Grundrente-Pläne von Arbeitsminister Heil: Die Regierung gibt das Geld falsch aus. Nötig seien mehr Mittel für die Infrastruktur.

Tatsächlich könnte die Politik hier mehr investieren. Deswegen muss sie aber nicht bei der gesetzlichen Rente sparen.

Woher soll das Geld kommen?

2001 hat die rot-grüne Regierung die Einkommenssteuersätze massiv gesenkt, ebenso wie die Unternehmenssteuern. Dadurch ist der Beitrag der oberen Einkommen für gesellschaftliche Bedarfe wie Infrastruktur und Bildung gesunken. Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen beteiligen sich seither hingegen stärker an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben, etwa durch die höhere Mehrwertsteuer. Es wäre jetzt durchaus möglich, die Steuern für einkommensstarke und vermögende Personen und für Unternehmen wieder anzuheben.

Welche Steuern sollten erhöht werden?

Das ist eine politische Entscheidung. Möglich wäre zum Beispiel, den Spitzensteuersatz auf Einkommen um ein paar Prozentpunkte anzuheben. Das widerspricht nicht irgendwelchen ökonomischen Gesetzen. In den USA diskutieren Topökonomen sogar darüber, den Spitzensteuersatz auf 70 Prozent zu erhöhen. Ökonomisch vertretbar wäre es auch, den Solidaritätszuschlag nicht abzuschaffen. Man könnte ihn in die Einkommenssteuer integrieren oder für ökologische Zwecke umwidmen. Möglich wäre auch eine Mindestbesteuerung des Betriebsvermögens von zehn bis 15 Prozent bei der Erbschaftsteuer. Dann würde Betriebsvermögen durch Ausnahmeregeln nicht mehr weitgehend komplett von der Steuer verschont.

Aber es heißt doch immer wieder, dass Arbeitsplätze gefährdet werden, wenn jemand Steuern zahlen muss, der einen Betrieb erbt.

Es gibt zahlreiche Untersuchungen, nach denen ein solch niedriger Satz unschädlich wäre für Betriebe. Wenn ein Unternehmen doch Probleme hat, kann man die Steuerzahlungen stunden.

Die Debatte geht derzeit eher in die andere Richtung. Der Wirtschaftsminister und CDU-Politiker Altmaier will Unternehmenssteuern senken, auch Industrievertreter wie der DIHK fordern das. Begründung: Andere Industrieländer wie die USA haben die Steuern gesenkt, jetzt müsse die Bundesregierung nachziehen. Muss sie?

Aus meiner Sicht nicht. Wenn die Bundesregierung hier mitmacht, heizt sie den Steuersenkungswettlauf weiter an. Dauerhafte Steuersenkungen haben volkswirtschaftlich schädliche Folgewirkungen, weil dann weniger Mittel vorhanden sind für die Versorgung von Unternehmen und Bürgern mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen. Besser wäre, wenn sich zumindest die EU-Staaten auf gemeinsame Regeln für die Unternehmensbesteuerung und Mindestsätze einigen würden.

Das wird ja versucht, funktioniert aber nicht.

Ich sehe da noch Chancen. Schließlich erwägen mittlerweile auch konservative Politiker, die EU-Regeln zu ändern. Bislang müssen alle EU-Staaten bei Steuerentscheidungen zustimmen, künftig könnte eine Mehrheit ausreichen. Das hielte ich für sinnvoll, damit die EU handlungsfähiger wird. Ausreichende Steuereinnahmen sind umso wichtiger, weil in der EU zu strikte Vorgaben bei der Staatsverschuldung gelten.

Was heißt das: zu strikt? Was ist falsch daran, wenn der Staat wenig Schulden macht?

Es gibt eigentlich eine goldene Regel, nach der die Nettoinvestitionen über Neuverschuldung finanziert werden. Diese Regel ist nicht nur in der Eurokrise missachtet worden, sondern auch hierzulande, und zwar nach der Jahrtausendwende. Damals ist Deutschland in einen Abschwung geraten, die staatlichen Einnahmen sind stark zurückgegangen. Die Politik hat daraufhin versucht, das Defizit in Grenzen zu halten, sie hat die Agenda 2010 beschlossen und die öffentlichen Investitionen stark zurückgefahren, auf allen Ebenen, insbesondere bei den Ländern und Gemeinden. Das Ergebnis sehen wir heute: Marode Schulgebäude, kaputte Straßen, ein überlastetes Schienennetz.

Inzwischen wird wieder mehr investiert.

Ja. Jetzt, im Aufschwung, stellt der Bund den Kommunen wieder mehr Mittel zur Verfügung, was gut ist. Die Gelder werden aber oft nicht abgerufen, weil die Kommunen keine Planungskapazitäten mehr haben - die sind in der Krise weggespart worden. Diese Stop-and-go-Politik ist schädlich. Besser wäre es, öffentliche Investitionen zu verstetigen, damit Kommunen die nötigen Kapazitäten vorhalten können. Auch die Baubranche könnte sich dann darauf einstellen, dass die öffentliche Hand kontinuierlich investiert. Derzeit kommen viele Baufirmen gar nicht hinterher mit dem Abarbeiten von Aufträgen, weil sowohl der Staat als auch Privatfirmen ihre Investitionen hochgefahren haben.

In Deutschland ist seit 2009 die Schuldenbremse im Grundgesetz festgeschrieben. Dennoch investiert der Staat wieder mehr. Sind strikte Haushaltsvorgaben also doch nicht so schlimm?

Der Punkt ist: Die neue Schuldenregel hat bisher kaum gegriffen, weil wir einen ungewöhnlich langen Aufschwung haben und die Staatseinnahmen sehr hoch sind. Meine Sorge ist, dass wir wieder in eine Abwärtsspirale kommen, wenn die Konjunktur abstürzt: Der Staat kürzt seine Ausgaben, fährt die Investitionen zurück und schwächt damit die Wirtschaft zusätzlich. Beim nächsten Abschwung gelten dann mit der Schuldenbremse noch striktere Defizitregeln als früher, es besteht also die Gefahr, dass der Staat noch stärker spart.

Die Schuldenbremse sieht vor, dass die Neuverschuldung über die Konjunkturzyklen hinweg nicht höher als 0,35 Prozent des Bruttoinlandprodukts liegen darf. Warum ist die Grenze bei 0,35 Prozent festgelegt worden?

Diese Schwelle ist vollkommen willkürlich, die Schuldenbremse lässt sich daher ökonomisch nicht rechtfertigen. Mir ist jedenfalls keine Theorie bekannt, die besagt, dass diese Grenze sinnvoll oder nötig ist für eine gute wirtschaftliche Entwicklung ist.

Sie raten der Politik, die Schuldenbremse wieder abzuschaffen?

Ich halte die Regel, Nettoinvestitionen über Neuverschuldung zu finanzieren, für gut begründbar. Denn von Investitionen in Schulen, Infrastruktur und in die ökologische Modernisierung profitieren nachfolgende Generationen. Deshalb ist es gerecht, wenn diese Generationen über die Tilgung der Kredite an der Finanzierung beteiligt werden. Das ist auch möglich, weil Investitionen in die Infrastruktur - etwa das Mobilfunknetz - das Wachstum fördern. Das ermöglicht die Rückzahlung der Schulden, auch wenn die Zinsen wieder steigen. Derzeit muss der Staat ja ohnehin praktisch keine Zinsen zahlen.

Nun steht die Schuldenbremse im Grundgesetz und ist nicht mehr so leicht wegzukriegen.

Es gibt aber Spielräume. Die Bundesländer können zum Beispiel über Anstalten des öffentlichen Rechts Kredite aufnehmen, die bei der Verschuldung nicht berücksichtigt werden. Mit dem Geld können sie Investitionen tätigen.

Wenn die Länder das tun, wird ihnen bestimmt vorgeworfen, dass sie mit Tricks die Schuldenbremse umgehen.

Das sind keine Tricks, das ist rationale Politik. Aber es stimmt schon: Wenn der Abschwung kommt, werden die Rufe nach Einsparungen vermutlich wieder lauter. Die Politik müsste sich dem stellen und begründen, warum es richtig ist, auch im Abschwung zu investieren.

Zum Schluss nochmal zu Ihrem neuen Job: Ihre Nominierung für den Sachverständigenrat ist ungewöhnlich scharf kritisiert worden, etwa von dem Ratsmitglied Lars Feld. Bemängelt wurde etwa, dass sie zu wenig in internationalen Fachzeitschriften publiziert haben.

Wissenschaftler können in ihrer Arbeit unterschiedliche Prioritäten setzen: Sie können forschen oder lehren, die Politik beraten oder möglichst viele Beiträge in Fachzeitschriften veröffentlichen. Mir ist es wichtig, mich mit realen gesellschaftlichen Belangen zu befassen und Lösungen für Probleme aufzuzeigen. Der gesetzliche Auftrag des Sachverständigenrats ist es, der Politik verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen: Was passiert, wenn die Politik diese oder jene Entscheidung trifft? Damit kann der Rat öffentlich aufzeigen, welches Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten die Politik hat. Das ist eine tolle Aufgabe!

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