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Von der Flucht gezeichnet
Vier Comic-Künstlerinnen erzählen vergessene Geschichten aus der NS-Zeit
Berlin. Alles beginnt mit einem Salat. Einem saftig grünen, mit feinen Strichen gezeichneten Kopfsalat. Ein schmaler Mann mit spitzer Nase stibitzt ihn aus trister, farbloser Ackerlandschaft und nimmt ihn mit auf seine Reise gen Süden. Im überfüllten Zug konzentriert er sich auf seine Errungenschaft. »Ich ließ diese ganze Hölle hinter mir - leer und ohne Vorstellung, was als nächstes kommen würde. Ich fokussierte meine Gedanken auf den Salat.«
Die französische Zeichnerin und Illustratorin Emilie Josso erzählt in diesem Comic die Geschichte von Jonasz Blitt, einem fiktiven Charakter, der die Konzentrationslager Auschwitz und Mauthausen überlebt hat und als Flüchtling nach Italien kommt.
Als eine von vier europäischen Zeichnerinnen hat Emilie Josso sich bei dem Projekt »Redrawing Stories from the Past II« mit Flucht- und Migrationsgeschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Erschienen ist die Anthologie mit den wunderbar gezeichneten, vielschichtigen Geschichten beim lettischen Comicverlag kuš!. Die Zeichnerinnen beleuchten Themen und Biografien, die zumindest deutschen Leserinnen und Lesern wenig bekannt sein dürften.
So berichtet Julia Kluge aus Leipzig über die »Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland«, die der Pathologe Philipp Schwartz 1933 in Zürich gegründet hat, um von den Nazis verfolgten jüdischen Wissenschaftlern zu Jobs im Ausland zu verhelfen. Die Illustratorin erzählt von Schwartz’ Reise nach Istanbul, wo europäische Wissenschaftler mit offenen Armen empfangen wurden.
Kluges putzige Figuren mit ihren kleinen Hüten und übergroßen Händen sitzen am Bosporus und unterhalten sich über die Geschehnisse in Europa. In Text und Bild stellt die Zeichnerin Realitäten gegenüber: Während in Zürich enthusiastisch über Experten verschiedener Fachbereiche debattiert wird, zeigt sie im Bild Wissenschaftler auf der Flucht oder in Sträflingskleidung im Konzentrationslager.
Philipp Schwartz gelingt ein Neuanfang in der Fremde - so auch der Protagonistin von Lina Itagaki. Die litauische Comic-Künstlerin erzählt von Perla Frankel, einer polnischen Jüdin, die mit ihrer Familie aus Poznan über Litauen, Russland und Japan schließlich nach Neuseeland flüchtet. Geholfen hat ihr dabei der in Litauen stationierte japanische Diplomat Chiune Sugihara. Er stellte im Zweiten Weltkrieg Tausende japanische Transitvisa für Jüdinnen und Juden aus und rettete auf diese Weise vielen von ihnen das Leben.
Während Lina Itagaki das turbulente Leben auf der Flucht schildert, spielt sich ein großer Teil von Alice Socals Comic in Briefen und Träumen ab. Ihr Protagonist Heinz Skall ist im italienischen Lager Campagna interniert. Im Traum spricht er mit einem rosafarbenen Esel. Dieses Bild hat Alice Socal in einem Briefwechsel ihres Protagonisten mit seinen Eltern aus den 1940er Jahren gefunden.
Ihre Ideen haben die vier Zeichnerinnen im Frühjahr 2018 bei einem Treffen in Neapel entwickelt. Bei ihren nachfolgenden, mehrmonatigen Recherchen begleiteten sie der Comic-Zeichner Sascha Hommer und der Comic-Theoretiker Ole Frahm. Dass nur Teilnehmerinnen ausgewählt wurden, sei nicht ganz unabsichtlich passiert, berichtet die freiberufliche Kulturmanagerin Elisabeth Desta, die das Projekt zusammen mit dem Kulturwissenschaftler Ludwig Henne organisiert hat. »Wir hatten Lust, Comiczeichnerinnen zu fördern«, sagt sie. Denn die Szene sei immer noch vorwiegend männlich dominiert.
Bereits 2015 hatten sich Zeichnerinnen und Zeichner beim ersten Teil des Projekts mit vergessenen Opfern des Nationalsozialismus beschäftigt. Der zweite Teil wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung, den Goethe-Instituten in Rom und Neapel sowie dem Anne Frank Zentrum Berlin gefördert.
Emilie Josso ist die einzige der vier Teilnehmerinnen, die einen fiktiven Protagonisten gewählt hat. »Ich habe nicht die eine Geschichte gefunden, die das erzählt, woran ich interessiert bin«, berichtet sie bei der Eröffnung der Ausstellung im Neurotitan Schwarzenberg in Berlin. Ausgehend von Interviews, die sie in Italien führte, verknüpfte sie verschiedene Lebensläufe miteinander. Der Weg von Jonasz Blitt führt aus dem grauen Nazireich in ein Bologna, das in warme Rottöne getaucht ist. Mit feinen, detaillierten Zeichnungen und weicher Farbgebung fängt Emilie Josso das Alltagsleben des Gestrandeten ein.
Die Comics zeigen, warum es lohnt, historische Geschichten in Bildern zu erzählen. Mit ihren unterschiedlichen künstlerischen Handschriften fangen die Zeichnerinnen Gefühle, Träume, Atmosphären, Nebensächlichkeiten und Widrigkeiten des Alltags ein - und öffnen den Blick für Geschichten außerhalb Deutschlands. Das Ergebnis ihrer Recherchen auf 40 bis 50 Seiten unterzubringen, sei nicht einfach gewesen. »Es war schwierig und manchmal schmerzhaft, wichtige Dinge rauszulassen«, erzählt Alice Socal. Julia Kluge bestätigt: »Jede von uns hätte ein ganzes Buch daraus machen können.«
»Redrawing Stories from the Past II«, kuš! Verlag, Ausstellung bis 6. April: Galerie Neurotitan Berlin.
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