Am Anfang war ein Helm
Karlen Vesper interessiert sich als Geschichtsredakteurin für Lebensgeschichten
Was wird jemand, wenn die Mutter Journalistin ist und der Vater Historiker? Vorsehung ist nicht die Sache von Atheisten, aber das Vorbild der Eltern darf vermutet werden, wenn die Tochter Geschichtsredakteurin wird. So geschehen bei Karlen Vesper, beim »nd« verantwortlich für Geschichte und Geschichtspolitik.
Karlen - mancher ist unsicher, ob es sich um Frau oder Mann handelt; andere zeigten sich begeistert von der Kombination aus Karl (Marx) und Lenin. Die unpathetische Wahrheit: Es ist eine Zusammensetzung aus den Vornamen der Eltern, Karl-Heinz und Marlene. Er war als DDR-Diplomat unterwegs, weshalb Karlen in Jakarta geboren wurde und in Indien und Burma (heute Myanmar) aufwuchs. Hinter der Botschaftsresidenz in Rangun fand sie im Dschungel einen Helm der britischen Kolonialtruppen, den sie noch immer besitzt. Gut möglich, dass damit das historische Interesse erwachte.
Jedenfalls studierte sie Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, fand den Journalismus interessant, arbeitete bei der Studentenzeitung mit. Dort schaute als Betreuer ein Geschichtsredakteur vom »Neuen Deutschland« vorbei - das Weitere ergab sich.
Der Anfang beim Zentralorgan im Herbst 1982 (niemand ist so lange in dieser Redaktion wie Karlen Vesper) war ernüchternd. »Der Umgangston war rüde«, erinnert sie sich, und als Redakteurin musste sie ihren Autoren - Wissenschaftlern, bei denen sie eben noch studiert hatte - erklären, aus welchen ideologischen Gründen ihre Artikel verändert wurden. Sie wollte weg, lieber promovieren, doch der Antrag wurde nicht bearbeitet - »bis im Herbst 1989 die Wende kam und die Zeitung plötzlich interessant wurde«.
Wenn sie zu den großen Buchmessen fährt, können Kollegen und Leser sicher sein, dass sie nachdenkliche, anregende Interviews mitbringt. Das reicht vom Thrillerautor Ken Follett bis zum Kapitalismuskritiker Jean Ziegler.
Die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, die Dokumentation des Widerstands dagegen ist ein Lebensthema für sie geworden. Immer wieder befragt sie Überlebende des faschistischen Terrors, Widerstandskämpfer, Rotarmisten, verfolgte Juden, erzählt in berührenden Porträts ihre Geschichten. Ein wichtiger Beitrag zum historischen Gedächtnis, wie auch ihre vier Porträtbücher - und ein wesentlicher Grund dafür, dass sie dreimal den Preis des nd-Fördervereins erhielt.
Mit ihren Texten, auch mit ihrer Arbeit an den Buchbeilagen, trägt Karlen Vesper auf eigene, zuweilen eigensinnige Weise zum Bild dieser Zeitung bei. Wer sie an ihrem Schreibtisch besucht, betritt ein chaotisches Refugium, vollgestopft mit Büchern und historischen Insignien.
Was wird jemand, wenn das Geburtsdatum mit Rosa Luxemburgs Geburtstag und Stalins Todestag zusammenfällt? Geschichtsredakteurin. Was denn sonst?
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