Liebe, Freunde
Michael Girke / Jetzt!
Mitte der achtziger Jahre fanden in der tiefsten deutschen Provinz, in Bad Salzuflen (seit 2015 anerkannt als »allergikerfreundliche Kommune«), Musikerinnen und Musiker zusammen, die wenig später in Deutschland weltberühmt werden sollten: Frank Spilker (Die Sterne), Bernd Begemann (Die Antwort), Bernadette La Hengst (Die Braut haut ins Auge) und Jochen Distelmeyer (Blumfeld) veröffentlichten mit ihren damaligen Bands Kassetten auf dem »Fast Weltweit«-Label. Der Sänger und Gitarrist Michael Girke war offenbar so etwas wie ein Zentrum dieser Szene. Girke ging allerdings nicht nach Hamburg, sondern nach Berlin, und das auch nur kurz. Seine Musik geriet weitgehend in Vergessenheit. Von Michael Girkes Band Jetzt! erschien damals nur ein Tape, 1987, »Liebe in GROSSEN Städten«. Erst 2017 wurden die Stücke zum ersten Mal auf Vinyl und CD veröffentlicht.
Heute lebt Girke als Schriftsteller und Dozent in Herford und schreibt über Literatur und Filme, u.a. für »Freitag«, »Junge Welt« und »taz«. Mit einem neuen Album von Jetzt! hat eigentlich niemand mehr gerechnet, ein unverhofftes Glück. Der britisch geprägte Indie-Pop der 80er Jahre ist einer erzählerischen Folkmusik gewichen - viel Akustikgitarre, Tempo immer im mittleren Bereich, alle halten sich an den Instrumenten zurück und schaffen Platz für die Stimme und die Texte. »Das Einfache trifft’s«, singt Girke im letzten »Liebeslied« der Platte. Stimmt. Zwei Zeilen über das geglückte Zusammenleben zum Beispiel: »Wer Schuld hat, fragst du nie / Du fragst, woran es liegt«. Und anders geht es vielleicht ja auch nicht.
Das Adjektiv »lebensweise« klingt verzopft, aber für diese Songs trifft es zu. Girke gelingt in deutscher Sprache ein Heimatlied, das nicht verblödet oder reaktionär ist: Verschiedene Möglichkeiten werden durchgespielt, Liebe, Freunde. Und dann so eine Strophe als Heimat-Entwurf: »Es war einmal im Kino / ein Film von Straub/Huillet / Ich bin, wenn ich dran denke / immer noch bewegt / Ein Schimmer von ganz And’rem / war im Jetzt zu sehn / Ich hätte gern gewusst / wie man in die Leinwand geht«.
Filme, Musik und Literatur als Orte der Geborgenheit und des Hoffnungsvollen spielen immer wieder eine Rolle, auch im Zentrum der Platte, dem achtminütigen Song »Wie es war«, der eine Kindheit in Herford beschreibt, in den Achtzigern, als Platten noch ein Fluchtweg sein konnten für junge Menschen, die mit dem Gegebenen nicht klarkamen, während der Vater in die Fabrik musste, »die Leben gibt und aus dem Körper zieht«: »Die Ferienjobs, der karge Lohn / Wovon ich Platten und Bücher geholt / In die ich tauchte, endlos / Mehr als zu Hause hab’ ich gewohnt / In den Songs von Bob Dylan und Leonard Cohen«. Eine unspektakuläre Platte, und eine der schönsten dieses Sommers.
Jetzt!: »Wie es war« (Tapete/Indigo)
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