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Kalter Krieg im EU-Parlament
Resolution zu Faschismus und Russland zieht weiter Kreise. Der Protest formiert sich europaweit
»Die Entschließung ist ein Text grober ideologischer Propaganda, wie er aus der schlimmsten Zeit des Kalten Krieges in Erinnerung ist.« Das schreibt die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) - Bund der Antifaschisten unter der Überschrift »Eine schlimme Botschaft des Europäischen Parlaments« über eine am 19. September angenommene Resolution. Der Beschluss setze »die Unterdrücker und Unterdrückten, Opfer und Schlächter, Eindringlinge und Befreier gleich«, so die FIR in der vergangenen Woche.
Was war geschehen? Unter der eher unverfänglichen Überschrift »Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas« hatten Abgeordnete aus den Fraktionen der Konservativen, Liberalen, Sozialdemokraten und Nationalkonservativen (EKR) ein Papier zusammengeschustert, das nicht nur Faschismus und Stalinismus in einen Topf wirft, sondern zugleich wüste Beschimpfungen gegen Russland enthält. »Dass die Republik Polen zuerst von Hitler und zwei Wochen später von Stalin überfallen wurde«, sei »eine unmittelbare Folge des Hitler-Stalin-Pakts«, heißt es in der Entschließung. Diese trägt wesentlich die Handschrift der EKR-Fraktion, in der solche Parteien wie die rechtsnationale polnische PiS oder die rechtextremistische spanische Vox sitzen. Ebenso ist die Rede davon, dass die Sowjetunion sich »die unabhängigen Republiken Litauen, Lettland und Estland einverleibte«. Explizit wird zudem die heutige Staatsführung in Moskau angegangen. Russland sei »noch immer das größte Opfer des kommunistischen Totalitarismus« und kein demokratischer Staat. Regierung, politische Elite und Propaganda würden nicht nachlassen, »die kommunistischen Verbrechen zu verharmlosen und das totalitäre Sowjetregime zu verherrlichen«, sind die Autoren der Entschließung überzeugt.
Inzwischen hat sich nicht nur die FIR zur Erinnerungs-Entschließung zu Wort gemeldet. Mit dem Beschluss werde ein falsches politisches und kulturelles Zeichen gesetzt, heißt es im Aufruf »Die Vergangenheit Europas korrekt erinnern«. Verfasst haben den Appell die italienische Linkspolitikerin Luciana Castellina und der politische Koordinator des Netzwerkes »transform! europe«, Walter Baier. Am vergangenen Freitag wurde er europaweit an die Öffentlichkeit gebracht. Es sei »nicht die Aufgabe einer institutionellen oder politischen Organisation, mittels Mehrheitsentscheidung eine bestimmte Lesart der Geschichte festzuschreiben.« Neben den zahlreichen inakzeptable Fehlern, einseitigen Sichtweisen und Verzerrungen würde der enorme Anteil der Sowjetunion mit mehr als
25 Millionen Toten am Sieg über den Nationalsozialismus ebenso verschwiegen wie die Tatsache, »dass in vielen Ländern die Kommunistinnen und Kommunisten die Hauptkomponente des Widerstandes gegen Nationalsozialismus und Faschismus bildeten und einen wesentlichen Beitrag zur Wiedergeburt der Demokratien ihrer Länder leisteten«. Dies bedeute allerdings keinesfalls, »die schändlichen Aspekte des Stalinismus, die Fehler und Schrecken, die in seinem Namen verübt wurden, zu ignorieren oder zu verschweigen«.
Der Appell wurde bereits vom Präsidenten der Europäischen Partei der Linken, dem Bundestagsabgeordneten Gregor Gysi, unterzeichnet und liegt auch den Grünen-Politikern Jürgen Trittin und Hans-Christian Ströbele vor.
Kritiker fürchten nach der Parlamentsentschließung, dass mit der »Stalinismus-Keule« auch gegen linke Parteien, Bewegungen - und selbst Meinungen - vorgegangen werden könnte. Gerade in den sogenannten Visegrad-Staaten Osteuropas, in denen teilweise entsprechende Gesetze existieren, geschieht das bereits, eben mit klarem Verweis auf »stalinistische Ideologie«. Ausdrücklich würdigt die Parlamentsresolution, dass nicht nur die nationalsozialistische Ideologie, sondern auch die kommunistische in einigen Mitgliedstaaten gesetzlich verboten ist. »Der Text der Resolution rechtfertigt die undemokratischen Verbote gegen kommunistische Parteien in einigen Mitgliedstaaten«, sagt Martin Schirdewan, Fraktionschef der Linken (GUE/NGL) im Europaparlament, »nd«. »Damit legitimiert die Entschließung Repressionen gegen linke Organisationen und den Widerstand gegen die reale Bedrohung durch rechtsextremen Parteien. Es geht nicht zuletzt um die Umdeutung von Geschichte als Machtpolitik, um gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus zu diskreditieren.«
Die GUE/NGL hatte als einzige Fraktion geschlossen gegen die Entschließung gestimmt. »Wir verurteilen auf das Schärfste die Versuche, den 80. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs als Vorwand für historischen Revisionismus zu nutzen«, heißt es in ihrer Erklärung. Insgesamt jedoch stimmten im Straßburger Plenum 535 der 751 Abgeordneten zu - von den Rechtaußenfraktionen über Abgeordnete der PARTEI bis hin zu den Grünen. Dort allerdings hatten einige Abgeordnete doch Bauchschmerzen mit der Resolution. So enthielt sich die deutsche Grünen-Abgeordnete Anna Cavazzini der Stimme, ihre Fraktionskollegin Tatjana Ždanoka lehnte die Entschließung vehement ab. Sie sei gegen eine »Primitivierung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs«. In ihrer Stimmerklärung betonte die Lettin: »Es gibt nur einen Teufel, und der absolute Teufel ist die nationalsozialistische Ideologie.«
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