- Kultur
- 9. November
Wohlige Gefühle und kluge Reden
Notizen zu einem Erinnerungsmarathon über das dramatische Jahr 1989 in der DDR und dessen Folgen
Wahnsinn. Dieses Wort sollte aus dem deutschen Sprachschatz gestrichen werden. Weil man es inzwischen leid ist, sattsam überdrüssig, nervig. Aus allen Fernsehkanälen und Zeitungsartikeln springt es uns dieser Tage wieder an. Ausgestoßen von freudetrunkenen Menschen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 in Berlin, an der Bornholmer Straße und auf dem Ku’damm. Tatsächlich war es Wahn ohne Sinn und Verstand, der zum Fall der Mauer führte: Die unbedarfte Äußerung eines Politbüromitglieds und Unachtsamkeit einer überforderten Partei- und Staatsführung brachten überraschte Grenzsoldaten und Offiziere in arge Bredouille. Jene bewiesen jedoch zum Glück genügend Verstand und Vernunft, sich dem Ansturm der glückseligen Massen nicht entgegenzustemmen.
Wahnsinn: Allein in Berlin wurde und wird in dieser Woche in über 200 Veranstaltungen Rückschau gehalten, auf verschiedenste Weise, mit unterschiedlichsten Intentionen und getragen von diversen gesellschaftlichen Kräften und Institutionen. Aus dem Erinnerungsmarathon der letzten Tage seien drei Events herausgepickt.
Beginnen wir mit den »lustigen Weibern«, nein: nicht von Windsor, sondern der Friedlichen Revolution, die oft vergessen werden. Sie okkupierten das »Haus der Offiziere« auf dem Gelände des einstigen Headquarters der DDR-Staatssicherheit in Berlin, um an ihren Aufbruch vor 35 Jahren zu erinnern. Es war wie ein Familienfest, für viele ein Wiedersehen nach Jahren. Umarmungen, Küsschen, aufgeregtes Gezwitscher, man hatte sich viel mitzuteilen. Besonders heftig umringt Ulrike Poppe, Mitbegründerin von Demokratie Jetzt!
Den Aufstand der Frauen hatte ein im März 1982 von der Volkskammer verabschiedetes Gesetz entfacht, das deren Einberufung zum Wehrdienst im Verteidigungsfall vorsah. Bärbel Bohley, Irena Kukutz, Katja Havemann, Karin Teichert, Bettina Rathenow, Almut Ilsen und Ulrike Poppe formulierten eine Eingabe und schickten diese, unterschrieben von 130 Frauen aus Berlin und Halle an der Saale, im Oktober des Jahres an Partei- und Staatschef Erich Honecker. Die Aktion gilt als Gründungsakt der »Frauen für den Frieden«, die kreativ und fantasievoll mit eindrucksvollen Protestaktionen auf ihr Anliegen aufmerksam machten. Nicht konspirativ wollten sie wirken, sondern öffentlich und offensiv. Der inkriminierte Gesetzesvorstoß wurde schließlich zurückgezogen, wie Tom Sello, Berliner Beauftragter zur Aufarbeitung der »SED-Diktatur«, auf dem heutigen Campus der Demokratie anerkennend, dankend anmerkte.
Almut Ilsen und Ruth Leiserowitz, die selbst einer Gruppe »Frauen für den Frieden« angehört hatten, stellten ihr just erschienenes Buch »Seid doch laut! Die Frauen für den Frieden in Ost-Berlin« vor (Ch. Links, 304 S., geb., 30 €). Darin berichten 18 Aktivistinnen von ihren Aktionen und Diskussionen, ihren grenzüberschreitenden Kontakten, nicht nur in die Bundesrepublik und nach Westberlin, sondern bis nach Großbritannien, über ihre Konflikte mit den »Organen«, wie und warum sie Dinge wagten und taten, die sie bis dahin für unmöglich gehalten hatten.
Der Stasi waren diese Frauen unheimlich, lange Zeit glaubten Mielke & Co, dass westliche Dienste oder führende Köpfe der DDR-Opposition diese aufputschten. Ernüchternd die Erkenntnis, dass die Vertreter des schönen Geschlechts selbstbewusst und selbstbestimmt agierten. Zur Erheiterung des vornehmlich weiblichen Publikums an diesem Abend zitierten die Buchautoren aus Stasi-Berichten. Da ward unter anderem akribisch vermerkt, dass die engagierten Frauen Familie und Haushalt vernachlässigen würden, die Wohnungen verwahrlost seien, Geschirr nicht abgewaschen, Wäsche schmutzig; vermutet wurde, dass bewusst »Proletkult« zelebriert werde. Nachträglich Empörung löste im Publikum aus, dass die Stasi-Berichte über jene Frauen in den Akten ihrer Männer abgelegt wurden, »als wenn wir keine eigenständigen Persönlichkeiten gewesen wären«.
An die große Manifestation auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 erinnerte die Linksfraktion des Bundestages. Sie lud in den Roten Salon der Volksbühne. Auch hier zwei starke Frauen auf dem Podium: die Schauspielerinnen Jutta Wachowiak und Annekathrin Bürger. Und auch hier Wiedersehensfreude. Besonders herzlich begrüßt Inge Heym, Witwe von Stefan Heym. Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch führte in die Diskussion ein mit seinem Eindruck von einer bunten, fröhlichen, angstfreien Kundgebung. Jutta Wachowiak, eine der Organisatorinnen, erinnerte sich daran, wie schwierig es war, das meterlange Transparent mit der Aufschrift »Protestdemonstration« von den zuständigen Behörden genehmigt zu bekommen. Trotz allem sei ihr an diesem Tag »so wohl wie noch nie« gewesen. Annekathrin Bürger bedauerte, ihre grüne Schärpe mit dem Appell »Keine Gewalt«, Zeugnis eines revolutionären Moments, nach der Kundgebung einem kleinen Jungen geschenkt zu haben. Und der Schriftsteller Christoph Hein gestand, dass ihn, als er die Treppe zum Lastwagen, der provisorischen Rednerbühne, hinaufstieg, »eine unendliche Müdigkeit überkam« - Indiz für die Aufregung und Anspannung jener Tage.
Gregor Gysi, der in seiner Rede am 4. November mehr Rechtssicherheit eingefordert hatte, betonte, dass es auf dieser ersten legalen Demonstra-tion des Herbstes ’89 um die Reformierung der DDR, um einen demokratischen Sozialismus ging. »Dass sie gewaltlos blieb, war keineswegs sicher«, fügte der Anwalt und Linkspolitiker mit Verweis auf gewaltsam niedergeschlagene Aufbrüche in der Geschichte hinzu: Pariser Kommune 1871, Prag 1968 und Chile 1973. Für Hein, den ersten Präsidenten des gesamtdeutschen PEN, hatte der Traum von einer erneuerten DDR nach dem Mauerfall keine Chance mehr. Literaturwissenschaftler Paul Werner Wagner wiederum, damals Mitglied des Demokratischen Aufbruchs, kritisierte das heute dominierende Geschichtsbild über die DDR, in dem sich DDR-Bürger nicht mehr wiederfänden. Er beklagte kulturelle Verluste nach 1990, zu denen er auch die sich durch finanzielle Austrocknung auflösenden Arbeitertheater und Zirkel schreibender Arbeiter zählte.
60 Prozent der Ostdeutschen und 40 Prozent der Westdeutschen seien überzeugt, dass die Vereinigung nicht fair gelaufen ist, zitierte der Historiker Stefan Bollinger eine Umfrage auf der ganztägigen wissenschaftlichen Konferenz im KulturGut von Alt-Marzahn. Die maßgeblich von ihm organisierte Tagung hatte nicht nur das dramatische Jahr 1989 in der DDR im Blick, sondern auch die doppelte deutsche Staatsgründung vor 70 Jahren. Dagmar Pohle, Bürgermeisterin von Marzahn-Hellersdorf, resümierte die Folgen der »dilettantischen Grenzöffnung« durch eine konfuse SED-Führung am 9. November ’89: »Der Westen mit seinen Verlockungen konnte den DDR-Bürgern ihre Revolution streitig machen.« Sie reflektierte den Wandel in ihrem Stadtbezirk, einem »liebenswerten Ort«, der den abwertenden Begriff »Platte« nicht verdiene und wo dereinst der Professor Tür an Tür mit dem Werkzeugmacher und der Kombinatsdirektor neben der Kindergärtnerin wohnte. Inzwischen habe eine nicht minder spannende Durchmischung stattgefunden: 20 Prozent der 270 000 Marzahner weisen einen Migrationshintergrund auf. »Wir wollen friedlich miteinander leben und setzen uns mit allen, die dies zu verhindern versuchen, energisch auseinander«, sagte Dagmar Pohle.
Braune Eliten in der Bundesrepublik und gelebter Antifaschismus in der DDR wurden auf dieser Konferenz mehrfach angesprochen. Der Politikwissenschaftler Frank Deppe - der eigentlich über Erhards Modell der sozialen Marktwirtschaft referierte, als Pendent zu Jörg Roeslers Analyse von Honeckers Wirtschafts- und Sozialpolitik - erinnerte sich mit Schaudern an die Bundestagswahl 1961, kurz nach dem Mauerbau: In Sachsenhausen, einem Viertel in Frankfurt am Main, hatte er erlebt, wie alte und neue Nazis skandierten: »Freiheit für Berlin, Freiheit für Adolf Eichmann!« Der Organisator millionenfachen Judenmordes saß zu jener Zeit in Israel vor Gericht. Deppe merkte zudem an, dass der Zuspruch der AfD ein Resultat der radikalen Beseitigung aller sozialen Errungenschaften der DDR nach 1990 in Wild-West-Manier sei: »Ostdeutschland wurde zum Experimentierfeld des Sozialabbaus.«
Christa Luft, ehemalige Rektorin der Hochschule für Ökonomie in Berlin und 1989/90 Wirtschaftsministerin in der Regierung von Hans Modrow, wünschte sich auf der Konferenz des Vereins Hellen Panke: »Das 41. Jahr der DDR darf nicht vergessen werden.« Es habe damals viele gute Initiativen gegeben, konkrete und konstruktive Vorschläge, die jedoch nicht realisiert werden konnten, weil Bonner Politiker die in der DDR-Bevölkerung umschlagende Stimmung ausnutzten und auf einen raschen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik drängten. Christa Luft schockierte ihre Zuhörer mit Erinnerungen an den oft rüden Umgang bundesdeutscher Politiker mit Verantwortlichen in der DDR.
Kluge Frauen waren auch auf dieser Tagung reichlich vertreten, darunter die Philosophinnen Helga Hörz, Viola Schubert-Lehnert und Anne Urschll sowie Daniela Dahn. Die Schriftstellerin, 1989 Mitglied des Demokratischen Aufbruchs, forderte die Linken auf, der Eigentumsfrage mehr Aufmerksamkeit als bisher zu schenken. Im übrigen war auch auf dieser Veranstaltung wohliges Gemeinschaftsgefühl spürbar. Nicht nostalgisch, aber stolz blickte man auf Leistungen und positive Seiten der DDR sowie linke Traditionen in der BRD.
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