• Kultur
  • Bücher zum Verschenken

Das nicht gelungene Schweigen

Der Irrsinn des Stalinismus: Eugen Ruge formte aus Moskauer Akten einen ergreifenden Roman

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Paradoxe Wahrheit: Menschen können sich offenkundig schneller und streitfreier über die Zukunft verständigen als über die Vergangenheit. Das schlechte Gedächtnis ist unser erfolgreichster Geschichtslehrer. Valentin Katajew sprach, die Historie betrachtend, vom »Gras des Vergessens«; Paul Celan erschrak über »die gnadenlos sanfte Gewalt, mit der ein schönes Wiesengrün« die Massengräber »in ein weiches Bild« verwandele. Künstler, mit einem belastenden Talent geschlagen: einem Erinnerungsvermögen, das nichts vergräbt. Und das sich nicht beugen lässt. Und also leidet.

• Buch im nd-Shop bestellen
Eugen Ruge: Metropol. Rowohlt, 432 S., geb., 24 €.

Dem Schriftsteller Eugen Ruge gelang vor einiger Zeit mit dem Buch »In Zeiten des abnehmenden Lichts« ein bezwingendes Werk über Schicksale im Jahrhundert der parteikommunistischen Idee. Der Roman breitet ein Familienpanorama aus: Flucht nach Mexiko, Lager bei Stalin, Aufstieg in der DDR, Ausreise in den Westen. Empfindsam ehrlich, auch beißend offen und wunderbar ironisch schrieb das Buch am Beweis mit, dass in Untergangsromanen mehr Wahrhaftigkeit lebt als in jeder Aufbauliteratur - denn Abschiedsästhetik verweigert sich aller Beihilfe zu jener schönen, aber gefährlichen Illusion, Aufbrüche hätten Weltbestand.

In »Metropol« erzählt Ruge von seiner Großmutter; sie war eine der Hauptgestalten des erwähnten Romans. Betrachtet wird ein bislang unbekanntes Kapitel der Familie. Die Kommunistin, vor Hitler nach Moskau geflohen, arbeitete für den Geheimdienst der Komintern (OMS). Eine Existenz, die mitten hinein führte in die massenmörderische »Säuberungs«praxis der stalinistischen Klassenkampfpsychose. Der Autor forscht dem Schweigen nach, das seine Großmutter über ihr Moskauer Leben bewahrte. »Dies ist die Geschichte, die du nicht erzählt hast. Du hast sie mit ins Grab genommen. Du warst sicher, dass sie niemals wieder ans Licht kommt. Du hast dein Leben lang daran gearbeitet, sie vergessen zu machen, sie zu löschen, aus deinem, aus unserem Gedächtnis. Fast ist es dir gelungen.«

Die Kaderakte Charlottes: etwa 250 Seiten. Ein sehr guter Bekannter, dessen Namen die junge Frau zufällig unter den Angeklagten der ersten Schauprozesse findet, wird zum Auslöser eines erregenden Geflechts von Haltungen: unverrückbare Treue und nervöses Taktieren, Fremdbeschuldigungen und Selbstbezichtigungen.

Der Einstieg ins Buch ist gespenstische Bürokratie. Ruge betritt mit dem Ziel des Aktenstudiums das »Russische Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte« in Moskau. Der Einschüchterungsprunk der langen Flure. Die kalte Arroganz der Genehmigungsstempel. Der fühllose Triumph des Schalterwesens. Der Weg in den Roman führt über das sehr reale Gelände des Kafkaesken.

Charlotte und ihr Mann Wilhelm wohnen im Komintern-Hotel »Metropol«, für sie 477 Tage und Nächte lang eine Herberge der höllischen Geduldsproben, des ungewissen Ausharrens. Es öffnen sich uns, wie von Geisterhand, die Zimmertüren, und aus dem Klarbild der Fakten erwächst Ruges Kunst der inneren Monologe, der kräftigen Gemälde. Alles fließend episodisch - die Erzählung nimmt Tempo auf, verdichtet sich zu erregenden Dialogen. Die historisch verbürgten Gestalten: feingezeichnet mit dem Stift der ausschmückenden Fantasie; der Roman bleibt jedoch in stilvoller Tuchfühlung zu den Informationen des Reports. Tatsachenbericht und Thriller.

Menschen, schillernd gezeichnet: bärige Schwere, bulliger Frost, robuste Zartheit, knurrige Schläue, mausgraue Beflissenheit. Überall Charaktere, die auf ihre Schmerzprüfungen warten. O Gott, wie sie alle zerrieben werden: die Gutgläubigen wie die Bösgläubigen. Wie nur war das möglich?

Der Irrsinn des Stalinismus bestand darin, dass er Menschen brauchte und fand, die ans Humane des Ideals ebenso fest glaubten, wie sie vom Recht überzeugt waren, im Namen des Ideals immer auch Willkür praktizieren zu dürfen.

Ruge schrieb sein Buch an einer bohrenden Leerstelle, die immer wieder Erschrecken auslöst. Es ist der Schrecken über ein System der seelischen Unverträglichkeit. Diese Übertragung des militärischen Habitus auf alle Lebensbereiche. Dieser Zwangsenthusiasmus einer Kaderpartei, die Millionen zu Duldenden erzog und sie von alternativen Quellen der Selbstachtung abschnitt. Diese Ausspitzelung der eigenen Gefolgschaft. Diese böse Neigung zum kurzen Prozess. Diese Sühne, auch wenn keine Schuld vorlag. Verhaftet und erschossen wurde nach präzisen Auflagen mit Steigerungsrate: Planwirtschaft. Die Gleichniskraft des Geschehenen: Nicht die Wahrheit siegt, sondern die passende Wahrheit. Geschichtssinn treibt die Menschen zur Tat, er verlädt sie erst mit Utopien und verlädt sie dann auf Transporte. Für eine Sache leben? Der phrasenhafte Vorsatz leitet nicht selten das große Verhängnis ein: Man lebt für eine Sache, indem man irgendwann fraglos in ihr aufgeht.

Schlimmste Art der Selbstverstümmelung: Man redet sich ein, sie fände nicht statt. Daraus folgt nicht nur Selbstverlust, sondern meist auch Gefährdung und Züchtigung anderer Menschen. Die nicht ans Reißbrett einer Theorie genagelt werden wollen. Und plötzlich hat man sich schmutzig gemacht just an der reinen Lehre. Man wollte ein Erbe der Erkorenen werden und schuf mit am Erbe ganz aus Verdorbenem. Traumatisierte Gestalten ziehen vorüber, in ihrer Größe, in ihrer Nichtigkeit - Ruge lässt alle sein, wie sie sind. Im Schauder erniedrigender Verhältnisse feiert seine Literatur doch den liebenden, sehnenden Menschen. Der mit höchster Anspannung den Lebenslauf trainiert, diese so unolympische Disziplin: unser aller Spießrutenlauf im Getriebe der Gefügigmachungen und Gewöhnungen.

Ruges Vater emigrierte 1933 in die Sowjetunion, kam ins Lager, kehrte nach Stalins Tod in die DDR zurück. Der Sohn, 1954 im Ural geboren, wuchs in Potsdam auf, wurde Mathematiker, freier Autor, ging in den Westen. Sein neuer Roman zieht einen traurigen Himmel auf. Als ließe dieser Himmel feinste Grabplattenkiesel regnen. Wenn nach der Lektüre eines Buches die Fragen nur dringlicher werden, dann ist ein Buch ein gutes Buch. Indem es bedrängend gut für einen Schmerz bleibt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.