Seelisch deformiert
Andreas Peglau gab Reichs »Massenpsychologie des Faschismus« neu heraus
Wenige Jahre vor seinem Tod schrieb der Psychoanalytiker, Sozial- und Naturwissenschaftler Wilhelm Reich (1897-1957) in seiner Autobiografie, die Sowjetunion sei bereits »1936 ein eindeutig imperialistischer Staat« gewesen, »der nur eines mit dem demokratischen Kommunismus gemein hatte: das Bauen auf die Hoffnung der Menschen auf eine bessere Zukunft«. Antikommunist wurde Reich nie, aber nachvollziehbarerweise Antistalinist.
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Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933.
Hg. v. Andreas Peglau. Psychosozial-Verlag, 280 S., br., 32,90 €.
Die Hoffnung, in der Sowjetunion werde eine bessere Zukunft gestaltet, hatte er bis zur Mitte der 30er Jahre geteilt. 1927 war Reich Mitglied der österreichischen kommunistischen Partei geworden, 1930 wurde er von der KPÖ als Kandidat für die Nationalratswahlen aufgestellt. Im selben Jahr zog der prominente Freud-Schüler und Mitstreiter von Wien nach Berlin, trat der KPD bei, wurde ins Führungsgremium von deren Sexualreformorganisation gewählt, wirkte an der Marxistischen Arbeiterschule MASCH sowie an Berliner Sexualberatungsstellen. Und er beobachtete den Aufstieg der Nationalsozialisten.
»Im Faschismus bot sich die seelische Massenerkrankung unverhüllt dar«, sollte er seine Wahrnehmungen später zusammenfassen. Reichs im Spätsommer 1933 im skandinavischen Exil publizierte »Massenpsychologie des Faschismus« veranschaulicht im Detail, was damit gemeint war. Faschismus sei, so Reich, kein bloß politisch-ökonomisches Phänomen, sondern auch ein psychosoziales. Die NSDAP-Führung habe »mit unerhörter Energie und großem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und mutig aussprechen.«
Zu diesen Stärken gehöre, unbewusst an das anzuknüpfen, was nicht erst der Kapitalismus, sondern bereits das Patriarchat seit Jahrtausenden systematisch erzeuge: von Obrigkeitsangst und Hass erfüllte Untertanen, permanent auf der Suche nach wehrlosen Sündenböcken, denen sie ihre Misere anlasten könnten. Das Kind durchlaufe »den autoritären Miniaturstaat der Familie, um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein«. Die übliche familiäre Unterdrückung mache »ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar«, verwandle zudem die natürliche Aggression in »brutalen Sadismus, der ein wesentliches Stück der massenpsychologischen Grundlage desjenigen Krieges bildet, der von einigen wenigen aus imperialistischen Interessen insceniert wird«. Der solchermaßen seelisch deformierte Mensch suche sich Idole, die die eigenen Persönlichkeitseigenschaften am prägnantesten verkörpern: »Nur dann, wenn die Struktur einer Führerpersönlichkeit mit massenindividuellen Strukturen breiter Kreise zusammenklingt, kann ein ›Führer‹ Geschichte machen.«
Mit dieser Betrachtungsweise stand Reich im krassen Widerspruch zu den Direktiven der Kommunistischen Internationale über den Faschismus. Auch die »Massenpsychologie« diente als Begründung dafür, dass Reich im November 1933 aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen wurde. Vier Monate zuvor hatten ihn bereits die psychoanalytischen Organisationen aus ihren Reihen gestrichen, um ihren Anpassungskurs an das Hitler-Regime abzusichern. Dies trug ebenso wie die Verfolgung Reichs und seiner Schriften durch die Nationalsozialisten dazu bei, dass die Freudo-marxistische Originalfassung der »Massenpsychologie« - die sich gravierend von der seit 1971 auf Deutsch vorliegenden dritten Auflage unterscheidet - heute so gut wie unbekannt ist.
Dem Psychoanalytiker und Reich-Forscher Andreas Peglau ist es zu verdanken, dass dieser Klassiker der Rechtsextremismusforschung nun, nach 87 Jahren, erstmals wieder verlegt wurde, versehen mit einem umfang- und aufschlussreichen Anhang. Wer ein ganzheitliches Verständnis des NS-Regimes anstrebt, aber auch wer den gegenwärtigen politischen Rechtsruck durchschauen und bekämpfen will, sollte das Buch lesen.
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