Von der Suche nach einem Land, das es nicht gab
Kathrin Aehnlich parodiert die westdeutsche Sicht auf die Deutsche Demokratische Republik
Es war irritierend, mit welcher Hartnäckigkeit der freundliche ältere Herr in unserer Reisegruppe insistierte: »Sie kennen mich, natürlich kennen Sie mich.« Wir blickten uns ratlos an. Er klärte auf: Als Notar habe er die wöchentliche Lotto-Ziehung im DDR-Fernsehen »überwacht«. Keiner von uns konnte sich an ihn erinnern. Die Männer schon gar nicht, sie waren stets nur auf die Glücksfee fixiert.
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Kathrin Aehnlich: Wie Frau Krause die DDR erfand.
Kunstmann, 175 S., geb., 18 €.
Kathin Aehnlich tippte wohl regelmäßig. Wenn man ihr Buch als autobiografisch gefärbt liest, hat sie die Leidenschaft von der Großmutter geerbt. Die 1957 in Leipzig geborene Journalistin, die am Literaturinstitut Leipzig studiert hat, beschreibt ausführlich, wie der Notar zu Beginn jeder Lotto-Ziehung den ordnungsgemäßen Zustand der Vorrichtung überprüfte und wie dann doch eine Kugel steckenblieb. Was die Zuschauer nicht überrascht habe. Denn: »Warum sollte in diesem Land, in dem viele Dinge kaputt gingen, ausgerechnet ein Lottoziehungsgerät funktionieren?«
Die Lottozahlen der Heldin des Buches enthielten das Datum des Geburtstags der Republik - 7 10 19 49 - sowie eine 3 für das Kürzel DDR. Wie Hunderttausende DDR-Bürger schlug sich Isabella Krause nach 1990 mehr schlecht als recht durch. Im 30. Jahr nach dem Mauerfall fährt die arbeitslose Schauspielerin aus der Provinz nach Berlin, um für einen Werbespot vorstellig zu werden. Als man dort erfährt, dass sie eine originär ostdeutsche Pflanze ist, bietet man ihr einen lukrativeren Job an: eine Doku-Serie mit dem Titel »Wild-Ost«, die zur Primetime ausgestrahlt werden soll und in der Ostdeutsche über ihr Leben in der DDR berichten.
Der Chef des Fernsehteams weist Isabella ein: Es eilt. Das Jubiläum naht. Sie soll Menschen dazu bewegen, zu erzählen, »wie es wirklich war«, und dabei nicht die Mangelwirtschaft und die Bevormundung durch den Staat aussparen: »Sie wissen schon.« Uff, wen kann Isabella Krause hierfür gewinnen? Überhaupt, sind nicht schon alle Facetten des untergegangenen Landes ausgeleuchtet? Was trank der DDR-Bürger, was aß er, in welcher Stellung hatte er Sex? Was ist typisch ostdeutsch? Mitropa? Die wurde schon 1916 gegründet. Bockwurst mit Brötchen, Bulette mit Kartoffelsalat? Plaste und Elaste? Sprelacart und Datsche? In der DDR sagte man Kosmonaut statt Astronaut, Kaufhalle statt Supermarkt.
Isabella Krause kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück, nach Minkewitz. Das dortige Stahlwerk ist abgewickelt, der Bahnhof vom Schienennetz abgekoppelt, die Gaststätte verwaist und verfallen ... Sie befragt Bekannte und Verwandte, Frührentner, Arbeitslose. Die alte Wirtin Melitta, den ehemaligen Kraftwerker Heini, die Diva Magda, Ulla, die lustige Kindergärtnerin. Sie berichten freimütig und offen über ihr Leben, wie schön und erfüllt es war, wie beschwerlich auch.
Doch der Chef des TV-Teams ist unzufrieden. Nicht nur, weil Heini sich in seiner guten Stube im karierten Hemd auf geblümtem Sofa platziert - das geht gar nicht! Ulla schwärmt von der vorzüglichen Kinderbetreuung in der DDR, die werktätige Mütter entlastete, und die Diva von der Unterstützung der Künstler. Melittas Kaffee ist ungenießbar wie Muckefuck. Alle scheinen sich in der DDR eingerichtet zu haben. Und noch in ihr zu leben. Mit Zufriedenheit macht man keine Quote. Der TV-Mann ist empört über diese Zeitzeugen, die noch immer nichts begriffen haben.
Isabella braucht aber dringend das laut Vertrag mit dem Studio winkende Geld. Für die Mutter im Heim. Ihr bleibt nur eins: die DDR neu erfinden. Ein amüsantes, flott geschriebenes Büchlein.
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