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Keine Furcht mehr vor der Freiheit
Ein radikaler Humanist: Zum 120. Geburtstag von Erich Fromm
Jahrhundertwechsel haben stets eine besondere symbolische Bedeutung. Aus diesem Grund ließ der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud seine im Herbst 1899 erscheinende »Traumdeutung« auf das Jahr 1900 vordatieren. Nur sollte es hier nicht beim Symbolischen bleiben. Denn Freuds »Traumdeutung« wurde als Grundstein der Psychoanalyse in der Tat zu einem Gründungsdokument des 20. Jahrhunderts.
Tatsächlich im Jahr 1900, am 23. März, erblickte in Frankfurt am Main der spätere Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm das Licht der Welt, der einen wichtigen Beitrag dazu leisten sollte, die von Freud entwickelte Psychoanalyse das 20. Jahrhundert überdauern zu lassen. Fromm tat das aber, indem er Freuds Denken mit dem eines noch größeren »Baumeisters des modernen Zeitalters« kurzschloss, der 1900 erst 17 Jahre tot war und 1918 hundert Jahre alt geworden wäre: Karl Marx. Fromm war einer der wichtigsten Vertreter des sogenannten Freudomarxismus, der in den 1920ern in Berlin entstand und später vor allem auf die 68er-Bewegung großen Einfluss haben sollte.
Wie Marx und Freud war auch Fromm jüdischer Herkunft und wollte zunächst, wie viele aus seiner Familie, Rabbiner werden, bevor er kurz nach Ende des ersten Weltkriegs ein Soziologiestudium und anschließend eine Ausbildung zum Psychoanalytiker absolvierte, als der er zeitlebens praktizierte. Es waren der Massenwahn des Krieges und als Reaktion darauf die alttestamentarische Vision von universalem Frieden und Völkerverständigung, die Fromm sowohl für die sozialistische Utopie als auch für die Psychoanalyse empfänglich machten. So beschreibt er es in seinem Buch über Marx und Freud, »Jenseits der Illusionen«, das er selbst als »intellektuelle Autobiografie« bezeichnete und das 1962 erstmals in den USA erschien und nun pünktlich zum 120. Geburtstag wieder aufgelegt wird.
Marx und Freud verbinde ein zugleich kritischer wie radikaler Humanismus: Der Mensch müsse - und könne - sich kraft der Wahrheit aus dem Gefängnis seiner Illusionen und Ideologien befreien, um seinem wahren Wesen näher zu kommen. Doch während Marx im Vergleich zu Freud noch »viel weiter gespannte« universalistische Vision von einer klassenlosen, »völlig menschlichen Gesellschaft« unter ihrer »Entstellung« durch den damals noch in fast einem Drittel der Welt »realexistierenden« Sozialismus - aber auch durch die westlichen Sozialdemokratien - nur wieder freigelegt werden musste, bedürfe Freuds »Verteidigung der natürlichen Triebe gegen die Mächte der gesellschaftlichen Konvention« selbst noch einer Befreiung von ihrer dogmatischen Reduktion aufs Sexuelle. Beidem, der Popularisierung des »sozialistischen Humanismus« besonders der Marxschen Frühschriften (die Fromm in Auszügen 1961 erstmals in den USA veröffentlichte) wie auch der Entdogmatisierung der Psychoanalyse, widmete Fromm einen Großteil seines Lebenswerks.
Mit seiner Verknüpfung von Marx und Freud war Fromm aber zunächst auch prägend für die Entstehung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Seit 1930 leitete er die sozialpsychologische Abteilung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und entwickelte dort mit empirischen Methoden das Konzept des »autoritären Charakters«, das später vor allem durch die von Theodor W. Adorno mitverfasste Studie »The authoritarian personality« (1950) bekannt werden sollte. Die Bedeutung Fromms wurde dort allerdings weitgehend verschwiegen, er selbst 1939 von Adorno aus dem inzwischen nach New York emigrierten Institut gedrängt.
Wie auch der Psychoanalytiker Wilhelm Reich verortet Fromm die Entstehung des autoritären Sozialcharakters vor allem in der Familie, leitet ihn jedoch nicht aus der Triebstruktur ab. Vielmehr sei es eine »Furcht vor der Freiheit« - wie Fromm sie in seinem gleichnamigen Buch von 1941 beschrieb -, die den Menschen in eine Unterwürfigkeit gegenüber Autoritäten dränge, in der er sein eigenes Ohnmachtsgefühl kompensiere. Wie ein solcher autoritärer »Sado-Masochismus« zu Faschismus und Diktatur führen könne, sollte Fromm später am umfassendsten in seiner großen Studie »Die Anatomie der menschlichen Destruktivität« von 1973 untersuchen, die vor allem durch ihre psychopathologischen Porträts von Hitler, Himmler und Stalin bekannt wurde. Der sozialpsychologische Ansatz bestimmt hier die destruktive Aggression keineswegs als eine angeborene menschliche Eigenschaft, sondern aus der Wechselwirkung der emotionalen Bedürfnisse mit den sozialen und sozioökonomischen Bedingungen. Krieg und Gewalt sind also keine Naturnotwendigkeiten, sondern ihre Voraussetzungen lassen sich gemeinsam mit den Verhältnissen verändern.
Hier gehe es übrigens weniger »um die Alternative ›Kapitalismus‹ oder ›Kommunismus‹, sondern um die Alternative ›Bürokratismus‹ oder ›Humanismus‹«, schreibt Fromm in »Jenseits der Illusionen«. Denn der Kommunismus sowjetisch-chinesischer Prägung sei selbst dem Geist des Kapitalismus verfallen, der viel erfolgreicher gewesen sei »als alles, was sich die frühen Sozialisten vorstellen konnten«. In seinem Bann begannen sie irgendwann, »den Sozialismus im Sinne der Grundsätze des Kapitalismus zu interpretieren«: maximale Effizienz, bürokratische Organisation, hierarchische Unterordnung. Es ist letztlich dieser entmenschlichende Geist der Bürokratie in Kapitalismus wie Kommunismus, gegen den Fromm sich wendet. Ihm gegenüber stellt er eine Gesellschaftsordnung, die die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit anstrebt, anstatt sie den Zwängen der ökonomischen Effizienz unterzuordnen.
Dieses Ziel verfolgen auch Fromms bekanntesten zwei Bücher, »Die Kunst des Liebens« (1956) und »Haben oder Sein« (1976). Die Liebe in all ihren Spielarten ist der natürliche Antipode zur destruktiven Aggression, sie werde aber durch die kapitalistische Marktlogik zu einem Konsumgut degradiert. Sie wird, anders gesagt, auf die Existenzweise des »Habens« reduziert, anstatt dem »Sein« des Menschen Ausdruck zu verleihen.
Beschrieb Fromm bereits 1962 die Sowjetunion als »ein konservativer Staat, in dem es ums ›Haben‹ geht«, skizziert er in »Haben oder Sein« eine »neue Gesellschaft« im Geiste eines humanistischen Sozialismus: eine Gesellschaft mit voll entwickelter partizipativer Demokratie, einer von Profitinteressen befreiten Wirtschaft sowie einem garantierten Grundeinkommen für einen »gesunden und vernünftigen Konsum«.
Viele von Fromms Büchern wurden zu Bestsellern, von Fachkollegen und Weggefährten wurde ihm allerdings zunehmend Konformität und Oberflächlichkeit vorgeworfen. So kritisierte etwa der Philosoph Herbert Marcuse, ebenfalls Mitbegründer der Kritischen Theorie, dass Fromm die radikalen Ideen Freuds, wie etwa die Libido-Theorie, aufgegeben habe, während Fromm umgekehrt Marcuse und anderen ein Festhalten an Freuds Dogmatismus vorwarf, von dem er die Radikalität seines Denkens gerade befreien wollte. Als unbestreitbar muss aber Fromms Pionierleistung in der Grundlegung der empirischen Sozialpsychologie gelten, auch wenn diese von seinen Kollegen und Nachfolgern kaum entsprechend gewürdigt wurde.
Von erneut höchster Relevanz ist heute auch Fromms radikaler Pazifismus, den er zuletzt angesichts der atomaren Bedrohung des Kalten Kriegs entwickelte. Für Fromm war klar, dass ein auf Konkurrenz und Bereicherung angelegtes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aus dem Wiederholungszwang kriegerischer Konflikte nicht herausführen konnte, dazu müsste man dieses System selbst verändern. 30 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs wird diese Botschaft wieder aktueller, als es zwischenzeitlich scheinen mochte.
Fromm selbst sollte dieses Ende aber genau so wenig miterleben wie den Siegeszug des Kapitalismus, den er doch auch im Kommunismus schon ausgemacht hatte. Nach Jahrzehnten in New York und später Mexiko starb Erich Fromm - seit 1940 US-amerikanischer Staatsbürger - im Schweizer Muralto am 18. März 1980, wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag.
Erich Fromm: Jenseits der Illusionen. A. d. Engl. v. Liselotte und Ernst Mickel, dtv, 208 S., brosch., 10,90 €.
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