Italien im Regen stehen gelassen

Erst als die Krise sie selbst erreichte, warfen Berlin und Paris die bisherigen Dogmen der Finanzpolitik über Bord

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Krise stellt knallhart die Schwächen und Interessen in der Europäischen Union bloß. Statt »europäischer Solidarität« und Koordination hat sich eine nationale Rette-sich-wer-kann-Mentalität durchgesetzt, ist ein Wettlauf der Grenzschließungen ausgebrochen.

Wenn sich in Krisenzeiten die Lage stündlich ändert, werden dabei plötzlich auch bisher scheinbar unumstößliche Dogmen begraben. So gilt für Deutschland und Frankreich und damit auch für die Spitzen von EU und Europäischer Zentralbank (EZB) plötzlich das Diktat der Haushaltsdisziplin und strikten Defizitregeln nicht mehr. Dass die Regierungen in Berlin und Paris, aber auch in London und Washington nun unvorstellbar hohe Beträge in die Hand nehmen, lässt ahnen, wie ernst die Lage ist.

Im Corona-Brandherd Italien, das in eine tiefe soziale und wirtschaftliche Krise gefallen ist, dürfte man indes nicht vergessen haben, dass noch vor wenigen Tagen ganz andere Töne aus Berlin, Brüssel und Frankfurt zu hören waren. So hatte die Regierung in Rom Anfang März zur Bewältigung der Pandemie die EU um Schutzausrüstung wie Beatmungsgeräte, Atemschutzmasken, Gummihandschuhe, Schutzanzüge und Kunststoffbrillen gebeten. Der Krisenstab der Bundesregierung wollte von derartiger konkreter Solidarität nichts wissen und verhängte ebenso wie Frankreich ein Exportverbot. Auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde zeigte Rom die kalte Schulter. Es könne nicht Aufgabe der EZB sein, die Haushaltsprobleme und Folgen stark ansteigender Zinslasten für den italienischen Staat zu lösen, gab sie sich Mitte März als »Eiserne Lady«. Dies verschärfte die Lage in Italien und engte den Spielraum zur Krisenbewältigung weiter ein. Die EU-kritische Stimmung, die hier seit Jahren herrscht, erfuhr neuen Auftrieb. Nun aber reiben sich zwischen Brenner und Sizilien viele Menschen verwundert die Augen. Berlin setzt in Windeseile die Schuldenbremse außer Kraft, und die Oberlehrer an der Spree praktizieren mit Nachtragshaushalt und Defizitfinanzierung im eigenen Land genau das, was sie Rom stets untersagten.

Das strikte deutsche und französische Exportverbot für Ausrüstungsgegenstände zur Corona-Bekämpfung wurde nach tagelangem Druck auch der EU-Kommission inzwischen gelockert. Nun ist eine Ausfuhr etwa von Schutzbrillen, Atemschutzmasken, Schutzanzügen oder Handschuhen mit Genehmigung des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle wieder möglich.

Rückblickend stellen sich viele Menschen in Italien die Frage, ob es mit einer beherzten Entscheidung für eine Wirtschaftspause in den lombardischen Corona-Brutstätten in der ersten Februarhälfte und solidarischen Hilfen durch die EU zur Abfederung der Folgen vielleicht doch möglich gewesen wäre, die europaweite Ausbreitung des Virus entscheidend auszubremsen und viele Menschenleben zu retten. Doch angesichts der hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise und knallharter globaler Konkurrenzsituation wollten und wollen weder der italienische Industriellenverband Confindustria noch die europäischen Konzerne und Regierungen von solchen Überlegungen etwas wissen.

Vielen ist nicht entgangen, dass auch die sehr gut aufgestellte medizinische Infrastruktur der verbündeten Nato-Armeen nicht zur Unterstützung des überlasteten italienischen Gesundheitswesens eingesetzt wird. Hingegen helfen nun Kuba, China und Russland dem angeschlagenen Italien mit Hilfsgütern, Ärzten und Know-how. Dies hat auch Berlin unter Zugzwang gesetzt. So schickte die Bundesregierung am Sonntag eine Maschine mit 300 Beatmungsgeräten und sieben Tonnen Hilfsgütern nach Italien. Im deutschen Südwesten und Sachsen sollen französische Corona-Patienten behandelt werden. Derweil beschlagnahmten Polen und die Tschechische Republik laut der italienischen Zeitung »La Repubblica« medizinische Hilfsgüter aus China, die für Italien bestimmt waren, darunter auch viele Atemschutzgeräte und Masken.

Unterdessen zeigt ein vor Kurzem noch undenkbarer Vorstoß eines Kommunalpolitikers in NRW, wie gering das Vertrauen in den Kommunen, also an der Corona-Front, in die Katastrophenhilfe der eigenen Landes- und Bundesregierung ist. So bat der Landrat des vom Coronavirus besonders betroffenen Kreises Heinsberg, Stephan Pusch (CDU), China eindringlich um Unterstützung bei Schutzmaterialien zur Coronabekämpfung. Der Landkreis nördlich von Aachen hat bislang 25 Todesfälle durch das Virus zu beklagen. Hochgerechnet auf die Bevölkerungszahl der gesamten Bundesrepublik, entspricht das Ausmaß hier rechnerisch bereits italienischen Verhältnissen.

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